Lügen und andere Wahrheiten

Menschliches, Allzumenschliches

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Die Lüge: Zu ihr gehören Zweifel, Misstrauen, Angst; zu ihr gehören Liebe, Rücksichtnahme, Schonung. Zu ihr gehören Verrat und Feindschaft, das Vertuschen von Peinlichkeiten, die Suche nach dem einfachen Weg, Täuschung und Selbsttäuschung. Zu ihr gehören Konflikte und Beziehungen, die Ermittlung der Wahrheit und das zwangsweise Weiterlügen. Die Lüge: Sie ist eines der Urelemente des Kinos, ohne Lüge keine Handlung, kein Drama, kein Gegen- und Miteinander. Ohne Lüge keine Geschichte.
Vanessa Jopp ließ ihre Darsteller Charaktere entwickeln; und verknüpfte die daraus entstandenen kleinen Geschichten und Situationen zu einem großen Ganzen, zu einer Meditation über Beziehungen, über Liebe und über die Lügen, die das Leben braucht. Und das ist, man kann es so sagen: Ziemlich großes Kino. Man hat was fürs Herz, fürs Hirn, für den Bauch: Das Lachen, das Nachdenken und das Mitfühlen sind ganz selbstverständlich dem Film und seinen einzelnen Episoden eingewoben, ohne aufdringlich um Aufmerksamkeit zu heischen. Und Jopp inszeniert ohne Durchhänger, mit feiner dramaturgischer und emotionaler Dynamik.

Da ist Andi (Florian David Fitz), seines Zeichens Yoga-Lehrer, der aber gar nicht so entspannt ist, wie er sich gibt. Da ist Patti (Jeanette Hain), seine heimliche Geliebte, die sich emotional viel mehr an ihn gebunden hat, als er - oder auch sie - es wahrhaben wollen. Da ist Vera (Alina Levshin), russischstämmige Deutsche ohne Job, die von ihrer Familie verarscht wird und viel Geld braucht - und auf die Idee kommt, Andi zu erpressen. Und da sind Coco und Carlos, beide schon älter und kurz vor der Hochzeit stehend - Meret Becker und (sage und schreibe) Thomas Heinze bilden als Bald-Brautpaar das Zentrum des Films. Sie ist mit Patti befreundet, geht zu Andi ins Yoga und hat Vera als Zahnarzthelferin entlassen; und er muss ihren Regeln folgen, beispielsweise: Kein Alkohol, kein Nikotin bis zur Hochzeit! Oder: Freitagabend mitgehen auf die Vernissage! Dort stellt Patti, ihres Zeichens leidenschaftliche, aber wenig erfolgreiche Malerin, ihre Bilder aus - Muschibilder in der Zahnarztpraxis, und damit sind nicht Gemälde von süßen Kätzchen gemeint.

Auf leisen Pfoten kommen die Konflikte dahergeschlichen, legen sich auf die Lauer und springen dann auf ihre Beute - ein geschicktes Konzept für einen Handlungsverlauf, der aus einigen Nebenstories seine Konsistenz erhält. Langsam erkennen wir die Verzweiflung der Einsamkeit hinter Pattis Gefühlszynismen; langsam erkennen wir, dass Carlos kein so ein schlimmer Hallodri ist, wie es Thomas Heinzes Rollenbiographie nahe legen würde; und langsam erkennen wir die Kontrollneurose bei Coco, und lernen auch ihre dominante Mutter kennen, vor der sich Coco im Klo einschließt, um zu schmollen.

Natürlich ist die Handlung konstruiert, und detailliert nacherzählt würde sie höchst übertrieben wirken. Aber die Charaktere sind ziemlich wahrhaftig, in sich rund und trotz all ihrer Spleens, ihrer Ecken und Kanten nicht überkandidelt. Allein das ist schon viel wert - und wenn sich dann noch die Vergnüglichkeit leisen, unaufdringlichen Witzes einstellt, ist am Ende eben tatsächlich alles so gut, wie es eben sein kann.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/luegen-und-andere-wahrheiten