Tokyo Tribe (2014)

Ein Rapsical

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Für Sion Sonos neuen Film Tokyo Tribe kann man getrost ein neues Wort erfinden: das Rapsical. Was das ist? Ein Musical, in dem ausschließlich gerappt wird. Aber hier geht es ganz und gar nicht um HipHop, sondern um die Yakuza. Tokio ist aufgeteilt in eine Handvoll Clans, die die einzelnen Distrikte unter sich aufgeteilt haben. Die "Gira Gira Girls" und die "Hands" in Shinjuku, die "Sabu" in Shibuya, "Jack" in Koenji und die hippiesken Außenseiter "Musashino".

Und dann ist da noch der Yakuza-Boss Lord Buppa, stets in goldene Anzüge gekleidet und seines Zeichens schielender Kannibale und Strippenzieher im Hintergrund. Er hält die Clans auf Trab, indem er sie immer wieder gegeneinander aufhetzt, denn Buppa verfolgt größere Pläne. Er will die alleinige Herrschaft über Tokio und versammelt zu diesem Zweck die Waru, seine Armee an Willigen, die zu gegebenem Zeitpunkt alle Clans ausrotten sollen. Hinzu kommt außerdem noch Mera, ein blondierter, aufgepumpter Handlanger Buppas, der die erste Hälfte des Filmes in dem kleinsten Stringtanga der Filmgeschichte verbringt. Und Erika, die junge Ausreißerin, die versucht ihre Jungfräulichkeit loszuwerden - sie soll nämlich demnächst den Göttern geopfert werden und ist für diesen Zweck nur mit intaktem Hymen geeignet. All diese Verstrickungen und Systeme erklärt übrigens einer der Bandenchefs mit Hilfe eines Messers auf dem Brustkorb einer jungen, nackten Frau. Wie sollte man das auch anders machen?

Tokyo Tribe basiert auf dem gleichnamigen Manga und übertrumpft diesen sogleich doch in seiner fulminanten Extravaganz und Verspieltheit. Ein Mammutwerk in Neonfarben ist dieser Film: also genau das, was man vom japanischen enfant terrible auch erwartet. Zusammen mit den Besten der Besten der japanischen Rap- und HipHop-Szene hat Sono den gesamten Text in Rap-Reime verwandelt und mit wummernden HipHop-Beats unterlegt. Das ist zwar zunächst einmal etwas gewöhnungsbedürftig, doch es dauert nicht lange, bis man sich in den schnellen Rhythmus der Sprache, die im Film auch in der Handlung und im Schnitt weitergetragen wird, hineinfindet.

Man könnte den Film mit Boyz in the Hood, The Warriors oder West Side Story vergleichen. Doch diese Anleihen scheinen nicht halb so plausibel zu sein wie die Vermutung, dass hier eine Melange aus Yakuza-Filmen der 1970er Jahre (hier vor allem der grandios surreale Branded to Kill) mit Computerspielen wie GTA Paten standen. Die Welt des letzteren wird auch von Bandenkriegen und hyperrealen Figuren in einer ebenso hyperrealen Stadt bevölkert. Hinzu kommt, dass Musik, vor allem Rap und HipHop, in GTA ebenfalls eine zentrale Rolle spielt.

Sion Sono setzt in seiner kinematographischen Übertragung alles daran, das futuristische Tokio in den buntesten aller Farben erblühen zu lassen und die Bildausschnitte mit Unmengen an Gerümpel, Menschen, Farben, Bewegungen und Nebensträngen vollzustopfen. Was anfänglich noch sehr geradlinig wirkt, verzweigt und vernetzt sich schon bald zu einem wilden Klumpen Wahnsinn, der den Rest des Filmes immer schneller auf ein Ende zusteuert. Ein Ende, so viel sei erlaubt zu sagen, das den Zuschauer direkt bei seinem Voyeurismus packt und ihm zugleich einen ordentlichen Hieb in die Magengrube verpasst. Im guten Sinne natürlich. Auch in seiner Drastik bleibt sich Sion Sono also treu.

Und dennoch sollte man unbedingt hinter die grelle Fassade schauen, denn nur weil es blinkt, knallt, weil nackte Brüste fröhlich durchs Bild wippen und auf der narrativen Ebene mehr Kitsch und Fun als alles andere präsentiert, so heißt das noch lange nicht, dass dieser Film einfach "nur" ein hohler Spaß wäre. Vielmehr kommt hier die scheinbar ewig währende Problematik der Jugend zum Vorschein, die mit allen Mitteln versucht, ihre Persönlichkeit und Individualität zu finden. Und zwar innerhalb eines Systems, in dem nur Erwachsene die Strippen ziehen und das vollgestopft ist mit Regeln. Und diese Regeln sind oftmals absurd und führen zu Katastrophen.

Diesen Subtext kennt das japanische Kino schon seit den 1950er Jahren und führt ihn immer wieder fort. Die Samurai-Traditionen, deren Wahnsinn wohl am schönsten in den Lone Wolf & Cub-Filmen porträtiert wird, findet seine Weiterentwicklung in den Yakuza eiga der 1960er und 1970er Jahre mit ihren bizarren Ritualen. Auch hier setzen sich die Traditionen von Clans, Gehorsam und strengen Hierarchien fort, in denen kaum Platz ist für Einzigartigkeit, geschweige denn für junge Menschen, die sich frei ausprobieren wollen.

Es greift also zu kurz, Tokyo Tribe einfach nur als den typischen Wahnsinn Sion Sonos abzustempeln. Hier passiert mehr als pompös-hyperrealer Battle-Rap. Der Unterschied ist, dass der Film den Zuschauer selbst wählen lässt, ob er sich einfach unterhalten lassen will (Brüste! HipHop! Glitzer! Und unglaublich schlechte CGi-Panzer, die Shibuya platt walzen!) oder ob er den Subtext mit rezipiert.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/tokyo-tribe-2014