N - Der Wahn der Vernunft

Kann ein Europäer Afrika verstehen?

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Was geschieht mit dem Geist eines Enzyklopädisten, der stirbt, bevor er sein Werk vollenden konnte? Er findet keine Ruhe, zumal er einem Europäer gehört, der sich nach 50 Jahren Reisen durch Afrika mit der Frage quält, wie profund er den Kontinent kennengelernt hat. Der belgische Filmemacher Peter Krüger lässt den Geist des 1988 verstorbenen Franzosen Raymond Borremans (gesprochen von Michael Lonsdale) nach Westafrika zurückkehren, wo ihm eine afrikanische Frau helfen will, den Übergang ins Jenseits endlich zu schaffen. Um Frieden zu finden, muss er sich erneut mit Phänomenen auseinandersetzen, die ihm zeitlebens ein Rätsel blieben. Der nigerianische Schriftsteller Ben Okri verfasste die Texte für den Film, in welchem sich die im Off geführten Gespräche Borremans' mit seiner Begleiterin zum fruchtbaren Dialog zweier Denkmodelle entwickeln: dem logisch linearen des Europäers und dem spirituell orientierten der Afrikanerin.
Tatsächlich soll eine Frau den realen Borremans nach seinem Tod verflucht haben: Seine Seele werde keine Ruhe finden, weil er undankbar gewesen sei. Im Film fragt sich sein Geist also, ob er Afrika zurückgeben könne, was der Kontinent ihm geschenkt habe. Er besucht den Geist heutiger Menschen und fahndet mit ihnen nach Gemeinsamkeiten. Borremans kam 1929 als 23-jähriger nach Afrika und verdiente sich zunächst seinen Lebensunterhalt, indem er für europäische Kolonialisten musizierte. Dann betrieb er als einer der Ersten auf dem Kontinent ein mobiles Kino. Auf seinen Reisen sammelte er Insekten und schrieb an der ersten Enzyklopädie Afrikas, von der vier Bände veröffentlicht wurden. Aber er kam nur bis zum Buchstaben N. Die reale Person Borremans dient dieser originellen Mischung aus Dokumentarfilm und Fiktion nur als Aufhänger für eine allgemeiner angelegte philosophische Traumreise. Sie führt durch eine sinnliche, abwechslungsreiche Bildercollage aus Landschaften, Gesichtern, Impressionen.

Seine afrikanische Gesprächspartnerin hält dem rastlosen Geist vor, immer nach der ultimativen Wahrheit zu streben, auf alles eine Antwort bekommen zu wollen. "Wir erzählen Geschichten", entgegnet sie ihm. Träume, Legenden, Musik und Tanz: Die Wahrheiten der spirituellen Welt sind in ständiger Bewegung und Veränderung, wie das Leben selbst. Das Haus der Borremans-Stiftung samt Bibliothek steht mittlerweile, wie so viele Gebäude in der ivorischen Stadt Grand-Bassam, leer. Und dennoch ist er nicht vergessen: Ein Mann erinnert sich, dass er seinen Schulbesuch wie viele andere dem Engagement Borremans' zu verdanken hat. Das europäische Streben nach objektivem Wissen, nach Kategorisierung in Wort und Bild hat längst auch Afrika erfasst – im guten wie im negativen Sinn. Ein aktueller Exkurs in den Bürgerkrieg der Elfenbeinküste reflektiert zum Beispiel sehr kritisch, inwieweit ethnische Auseinandersetzungen geschürt werden, wenn man Wandervölkern eine nationale Identität abverlangt.

Wird Afrika für Europäer ein ewiges Rätsel bleiben wie der Schamanismus und die Allgegenwart der Geister? Während der körperlose Borremans danach strebt, die Schranken seiner Wahrnehmung zu durchbrechen und seinen Verstand zu schärfen, ist die Kamera ständig in Bewegung. Die Wellen des Ozeans, ein Hirtenjunge, Straßenszenen, der Himmel, aufgespießte Schmetterlinge fügen sich in fließendem Wechsel zum Erinnerungsalbum einer leidenschaftlichen Seele. Die verschiedenen Tonspuren - den Dialog der Denkweisen begleitet sphärische Musik - und der traumähnliche Bilderreigen demonstrieren, wie reich die Botschaften sind, die der Mensch empfängt. Seine Sinne, vor allem aber auch sein Verstand, können nur einen Bruchteil davon verarbeiten. So muss es dem europäischen Enzyklopädisten gegangen sein, der sich mit seinen Karteikarten dazu aufmachte, die fremde Schönheit Afrikas einzufangen. Indem Krügers Film an die Grenzen des linearen Denkens führt, gerät er zur Hommage an einen europäischen Geist, der als wahrer Entdecker eine Brücke zwischen konträren Welten zu schlagen versuchte.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/n-der-wahn-der-vernunft