The Walk

Ein Drahtseilakt für alle Beteiligten

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

The Walk ist wohl der erste Film bei kino-zeit.de, dem man eine Triggerwarnung voranstellen muss: Dieser Film ist nichts für Zuschauer, die unter Höhenangst und Vertigo leiden – so wie die Filmkritikerin, die das nicht ernst genommen hat und beim Sichten dieses Filmes in 3D und auf großer IMAX-Leinwand Blut und Wasser geschwitzt hat. Auch wenn die erste Hälfte von The Walk nur Höhen von ein paar Metern erklimmt, die zweite Hälfte spielt bei 471 Metern zwischen den beiden äußeren Spitzen des World Trade Centers. Genau hier wird Philippe Petit (Joseph Gordon-Levitt) sein Drahtseil spannen und ohne irgendeine Sicherung vom einen zum anderen Turm balancieren. Und wieder zurück. Und nochmal. Und nochmal.
Alle nicht von Höhenangst Geplagten sollten sich diese fiktionale Verfilmung des Dokumentarfilmklassikers Man on Wire aber ansehen. Lange war kein Film, dessen Geschichte mitsamt Ende bekannt ist, so spannend. Petit ist schon als Junge begeistert von der Kunst des Seiltanzes. Seine Eltern teilen diese Leidenschaft nicht und werfen ihn als Jugendlichen aus dem Haus. Sein Handwerk bringt sich der junge Mann teils selbst bei, die großen Geheimnisse dieser Kunst erlernt er indes von Papa Rudy (Ben Kingsley), einem Zirkusdirektor und dem Oberhaupt einer der führenden europäischen Seilkunst-Familien. Irgendwann geht Philippe nach Paris und verdient sich seinen Unterhalt als Straßenkünstler. Dort lernt er auch Charlotte (Annie Allix) kennen. Die beiden werden ein Paar, wenngleich die ungezügelte Passion und das noch ungezügeltere Temperament Philippes dieses Unterfangen nicht einfach machen. Stets sucht er einen noch spektakuläreren Ort, um sein Seil zu spannen. Und so ist es nur eine Frage der Zeit, bis er 1974 auf die sich noch im Bau befindlichen Türme des World Trade Centers stößt. Dort und nur dort will er sein Seil spannen und laufen. Was Philippe vorhat, ist jedoch illegal. Wie kommt man also mit einer kleinen Gruppe Helfer in die Türme, an den Wachen vorbei und installiert dort einen schweren Draht mit allen nötigen Sicherheitsvorkehrungen, ohne dass es jemand merkt? Und das noch dazu mit einem Team, das zum Teil aus Kiffern besteht und einen Helfer hat, der unter Höhenangst leidet? So wird aus einer netten Künstlerbiografie schnurstracks ein Thriller.

Natürlich werden diese Hürden überwunden und der Film schreitet zum eigentlichen Großereignis voran: dem Drahtseilakt zwischen den beiden Türmen. In der Tat, man muss es Robert Zemeckis und seinem Special-Effects-Team lassen, offenbart der Film hier einen wahren Nutzen der 3D-Technik und der computeranimierten Effekte. So spannend es ist, Philippe Petits Seilakrobatik von der Straße aus, also von unten, zu betrachten, es ist noch einmal etwas ganz anderes, viel enervierendes, den Zuschauer in den Moment hineinsaugendes, wenn man Petits subjektive Sicht einnehmen kann. Genau hier liefert der Film eine wirkliche Meisterleistung ab, indem er New York aus 471 Metern Höhe herstellt und – im Guten wie im Schlechten – einen wahrhaft viszeralen Eindruck dessen vermittelt, was Petit quasi als Antagonist gegenüber steht: die Leere. Da ist dieser kleine wendige Mann, da ist ein Seil und eine Balancestange. Und mehr nicht.

Doch trotz allem Wahnsinn und Nervenkitzel bleibt ein Wermutstropfen. Robert Zemeckis Version der Ereignisse verliert ab und an zwischen den Spezialeffekten und den großen Bildern den menschlichen Kern des Ganzen. Und wenn er ihn wieder einfängt, dann immer in einer schon fast märchenhaft anmutenden, disneyhaften Weise. Die Entscheidung, den ganzen Film von Petit selbst erzählen zu lassen (während er auf der Freiheitsstatue neben der Fackel steht), nimmt der Geschichte ihre kratzige Echtheit, die eben nicht immer schick und magisch ist, – und sie nimmt dem Akt des Drahtseillaufens seine inhärente künstlerische Poesie, die Zemeckis nicht einfach nur zeigen konnte, sondern auf der Tonebene jedes Mal und en détail zu Tode erklären lässt.

Die Geschichte an sich ist und bleibt ein besonderer Akt künstlerischer Arbeit und auch menschlichen Wahnsinns. Die Frage ist letztendlich: Will man eine ehrliche, dokumentarische Version oder die pompös-bunte, leicht überbordende Disney-Version? Wer letzteres mag, ist bei The Walk sehr gut aufgehoben.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/the-walk