Iraqi Odyssey

Zerstreut in alle Winde

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Wenn der irakisch-schweizerische Filmemacher Samir seine Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen und seine Halbschwester sehen will, muss er rund um den Globus reisen. Sie leben seit Jahrzehnten zerstreut in alle Winde, in Moskau, Amerika, Neuseeland, London. Der 1955 geborene Samir lebt in der Schweiz. Dass heute jeder 5. Iraker im Ausland wohnt, liegt an der von Kriegen, Terror und Not geprägten Geschichte des Landes. Samir rollt sie in seinem Dokumentarfilm Iraqi Odyssey am Beispiel seiner Großfamilie wieder auf, wobei er sich besonders für die Generation seines Vaters interessiert. "Für sie gab es keinen Widerspruch zwischen ihrer arabischen Herkunft, dem Fortschritt in der Technologie und der demokratischen Gestaltung der Gesellschaft. Ich wollte dieser Generation ein Denkmal setzen, denn ihre Geschichte wurde vergessen oder durch religiöse Fanatiker diskreditiert", erklärt Samir im Presseheft.
Der Filmemacher lässt einen Onkel, eine Tante und einen Cousin über die liberale Atmosphäre im Haus des Großvaters in Bagdad erzählen, wo die ganze Großfamilie in den 1950er Jahren wohnte. Damals gingen die Frauen unverschleiert auf die Straße und sogar an die Universität. Der Großvater legte als Richter Wert darauf, unbestechlich zu sein, selbst wenn er deswegen häufig versetzt wurde. Er ließ seine Töchter studieren und die Tante, die heute in Auckland, Neuseeland lebt, wurde Ärztin. Mehrere Kinder des Richters traten als junge Erwachsene der Kommunistischen Partei bei – auch aus Protest gegen den britischen Einfluss, den die Revolution von 1958 bekämpfte. Dadurch gerieten sie ins Visier der gegnerischen Baath-Partei, die später vom Diktator Saddam Hussein angeführt wurde.

Samirs Verwandte erinnern sich an die aberwitzige Akribie, mit der sie bespitzelt und verfolgt wurden. Auf den Iran-Irak-Krieg folgten Anfang der 1990er Jahre der zweite Golfkrieg und das Wirtschaftsembargo, schließlich 2003 der Einmarsch der Amerikaner. Samir durfte seine junge, verwaiste Halbschwester 2006 nicht in die Schweiz holen. Vor dem irakischen Bombenterror fand sie schließlich in den USA Zuflucht – nur, um wie die meisten ihrer Verwandten, von ständigem Heimweh geplagt zu sein.

Samir selbst erscheint kaum vor der Kamera, steuert aber einen Voice-Over-Kommentar bei. Die erzählenden Verwandten setzt er häufig vor einen Hintergrund aus alten Archivfilmen oder Fotografien. Darunter befinden sich interessante Fundstücke wie ein Filmausschnitt, in dem Saddam Hussein auf einem Parteikongress Verrätern mit dem Tod droht und dann sogar Namen aufruft. Das visuelle Setting mit Personen vor einem dokumentarischen Bilderteppich verweist darauf, dass Samir den Film in 3D drehte.

Diese Langfassung von zweieinhalb Stunden wird hauptsächlich auf Filmfestivals gezeigt, während es für Kinos eine auf 90 Minuten gekürzte Version in 2D gibt. Sie ist informativ und zuweilen bewegend, wirkt aber auch unstrukturiert geschnitten: Vor allem der häufige Wechsel von einem Erzähler zum anderen erschwert die Orientierung. Samirs Oral-History-Stunde mündet in verhaltenen Optimismus, wenn der Regisseur darauf verweist, dass es in seiner Familie ganz unterschiedliche Konfessionen gibt, von Christen bis zu Schiiten. Ihr Zusammenhalt, meint er, könne doch ein Beispiel gelebter Toleranz für das ganze Land sein.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/iraqi-odyssey