Singapore Sling

Die polymorph-perverse Seite des Film noir

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

"Als ich Singapore Sling gedreht habe, war ich der Meinung ich würde eine Komödie mit Elementen der antiken griechischen Tragödie erschaffen. Später jedoch, als ein paar europäische und amerikanische Kritiker den Film als "one of the most disturbing films of all times" charakterisierten, begann ich zu fühlen, dass irgendetwas mit mir nicht stimmt. Dann, als die britischen Zensoren die öffentliche Aufführung in den Kinos verboten, begann ich zu realisieren, dass etwas mit uns allen nicht stimmen kann." (Nikos Nikolaidis)
Der Singapore Sling ist ein teuflisches Gebräu: Der Longdrink aus Gin, Kirschlikör, Bénédictine und anderen Ingredienzien ist knallrot, ziemlich süß und sollte dennoch mit Vorsicht genossen werden. Ein Glas zuviel – und die Contenance ist im Eimer. Bei Nikos Nikolaidis' gleichnamigem Film aus dem Jahre 1990 hingegen kommt man mit vornehmer Zurückhaltung nicht sehr viel weiter. Die krude Mixtur aus S/M-Drama, Film Noir, Slapstick und wildem Underground verblüfft auch heute noch so, als habe man gleich fünf der Titel gebenden Drinks in sich hineingeschüttet und zur Sicherheit das Sodawasser gleich weggelassen – es gibt so Tage, da braucht man das.

Die schlechte Nachricht (es ist die einzige - versprochen) gleich vorab: Wer Otto Premingers Laura nicht kennt, hat an Singapore Sling (dem Film natürlich, nicht dem Drink) nur halb so viel Spaß. Denn Nikos Nikolaidis' damals ebenso frenetisch wie angeekelt aufgenommenes Werk ist vor allem eine Hommage, Variation und polymorph-perverse Weiterführung des Film Noir Klassikers aus dem Jahre 1944. Dementsprechend voll ist Singapore Sling auch mit Bezügen zu dem düsteren Meisterwerk des österreichisch-amerikanischen Filmemachers. Zugleich aber, bei aller Liebe zum Vorbild, weiß Nikolaidis seinem Film durchaus einen ganz speziellen Dreh zu verleihen. Und der besteht vor allem in der teilweise recht drastischen Darstellung von Monströsitäten und Perversionen, wie man sie in dieser Deutlichkeit im Film Noir niemals zu Gesicht bekommen hat.

Eingebettet in die minutiöse Rekonstruktion des Looks und der Atmosphäre von Premingers Original (bis hin zur Verwendung der Filmmusik und zum Filmformat 1,33:1 geht Nikolaidis' Rekonstruktion) spinnt Singapore Sling die Geschichte weiter, variiert sie und lässt sie in einem wahren Dschungel aus Perversionen und Abhängigkeiten versinken.

Wie in Premingers Laura, ist auch in Nikolaidis' Film die Frau, um die sich alles dreht, bereits tot. Und hier wie dort besteht zwischen dem Ermittler und dem Mordopfer eine Beziehung weit über das Leben hinaus. Doch anders als bei Preminger begegnet der Detektiv seiner Angebeteten, der er schon seit vielen Jahren hinterherjagt und die er tot wähnt, nicht als leibhaftige Widergängerin, sondern gerät stattdessen in die Fänge der mutmaßlichen Mörderinnen von Laura. Diese beiden Frauen, Mutter und Tochter, sind verstrickt in eine inzestuöse Beziehung zueinander mit deutlich sadomasochistischen und kannibalistischen Tendenzen, die vor allem die Bediensteten des Hauses zu spüren bekommen. Angeschossen und erschöpft wird er zum Spielball ihrer Perversionen und verliert sich immer mehr in den Spielen und Orgien der beiden offensichtlich schwerstens gestörten Frauen, wie ein Geist fungiert er, den die Frauen alsbald Singapore Sling nennen werden, als Off-Erzähler, der im Film beinahe völlig verstummt ist.

So nostalgisch die Szenerie auch ist, die Nikos Nikolaidis hier entwirft, mit dem, was er an zwischenmenschlichen Abgründen (Nekrophilie, Inzest, harter SM-Sex inklusive diverse Spiele mit verschiedenen Körpersäften, Kannibalismus) auf der Leinwand zeigt, entfernt er sich in seiner Preminger-Hommage zugleich möglichst weit von seinem Vorbild und bricht die Vorlage nicht nur mit Gewalt und Abartigkeiten, sondern auch mit slapstickhaften Episoden wie etwa dem von Laurel & Hardy bekannten "Kniechen-Näschen-Öhrchen-Spiel" mit makaberem Hintergrund oder dem wiederholten Durchbrechen der vierten Wand, wenn sich die Frauen offensichtlich direkt an den Zuschauer jenseits der Leinwand oder des Fernsehschirms richten. Die wohlfeile Nostalgie, die Nikolaidis mit so viel Aufwand zunächst erschafft, zertrümmert er dann mit einer Vehemenz, wie man sie selbst im Underground-Kino der Gegenwart selten zu sehen bekommt.

Was am Ende übrig bleibt, ist ein Strudel an Besessenheit, ein absurdes Lehrstück über die Vergeblichkeit von Obsessionen und Fixierungen, die sich hier bis ins Unendliche hineinsteigern und am Ende zielgerichtet in den Abgrund führen. Wenn man so will, ist Singapore Sling damit auch ein Meta-Film über das Wesen des historischen Film Noir, in dem Besessenheit schon immer eine zentrale Rolle spielte; von den auf die Spitze und ins Abseitige getriebenen Figuren wie den beiden Femmes Fatales und dem einsamen Ermittler, wie wir sie hier vorgeführt bekommen, ganz zu schweigen.

Singapore Sling hat bei aller Grausamkeit und Verwirrung, die der Film anrichtet, aber auch etwas seltsam Befreiendes an sich – wer diesen Film durchlebt und durchlitten hat, der wird die Klassiker des Film Noir künftig mit anderen Augen sehen. Weniger als festgefügtes Format mit einem unumstößlichen Kanon an Stoffen, Figuren und Stilmitteln, sondern auch als Sprungbrett und Spielwiese, die dazu einlädt, einerseits den Regeln zu folgen und andererseits sie in kreativer und wahrhaft freier Weise zu verändern und zu verformen. Es wäre wünschenswert, wenn andere Filmemacher dem Beispiel des 2007 verstorbenen Nikos Nikolaidis folgen würden. Denn gegen die Erstarrungen von Formeln und vermeintlichen Erfolgsrezepten helfen ab und zu nur gezielte Schocks und Tabubrüche.

Wie mittlerweile zur (guten) Gewohnheit geworden, besticht die DVD-Erstveröffentlichung von Bildstörung nicht nur durch die Auswahl des Films, sondern auch durch die Ausstattung. Neben dem Booklet mit einem Essay von Gerd Reda umfasst die Bonus-DVD unter anderem den Dokumentarfilm Directing Hell über Nikos Nikolaidis, ein Interview mit dem Regisseur und Werbespots, die der Filmemacher gedreht hat.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/singapore-sling