Songs My Brothers Taught Me (2015)

Neorealismus in den Badlands

Eine Filmkritik von Maria Wiesner

Wenn eine junge Filmemacherin sich ihr erstes Spielfilmprojekt vornimmt, würde man ihr wahrscheinlich raten, nicht zu viele Hürden auf einmal nehmen zu wollen. Chloé Zhaos Debüt Songs my Brothers taught me" (2015) sieht auf dem Papier überambitioniert aus: die Coming-of-Age-Geschichte eines Jungen und seiner Schwester, gefilmt vor Ort im Indianerreservat „Pine Ridge“ in South Dakota, die meisten Darsteller sind Laien und standen zuvor noch nie vor einer Kamera. Es braucht viel Mut, eine gute Filmcrew und herausragende Regiefähigkeiten, um daraus einen guten Film zu machen. Zhao bringt all das auf – und sie verlangt von ihren Zuschauern volle Konzentration.

Songs my Brothers taught me beginnt ohne einleitende Tafeln, ohne verspieltes Szenenvorgeplänkel. Noch bevor das erste Bild zu sehen ist, ruft Pferdeschnauben Western-Assoziationen auf. Das erste Bild spielt mit dem Genre: In der klassischen Western-Kameraperspektive der Totale lässt ein Reiter ein weißes Pferd durch struppiges Gras tänzeln, im Hintergrund versinkt die Sonne in rosafarbenen Streifen unter Baumsilhouetten. Grillen zirpen überlaut, irgendwo am Horizont grollt ein Gewitter, das Pferd gibt sich störrisch und der adoleszente Junge auf seinem Rücken, dessen Gesicht noch mehr Kind als Mann ist, erzählt, dass man den Tieren beim Zähmen etwas wildes lassen muss, „sonst können sie hier nicht überleben“.

Wo genau dieses „hier“ ist, wird sich erst im Laufe des Films zeigen. Das ist der Punkt an Aufmerksamkeit, den Zhao voraussetzt. Keine ihrer Figuren wird lang erklären: „Wir befinden uns hier im Reservat ‚Pine Ridge‘ der Lakota.“ Man puzzelt sich das als Zuschauer selbst zusammen und folgt dabei zum einen Johnny (John Reddy), dem Jungen auf dem Rücken des weißen Pferdes, und seiner kleinen Schwester Jashaun (Jashaun St. John) durch ihren Alltag. Beide leben mit ihrer alleinerziehenden Mutter in einem heruntergekommenen Haus im Reservat. Johnny träumt davon, nach dem Highschoolabschluss im Sommer mit seiner Freundin nach Los Angeles zu gehen. Wie genau das funktionieren soll und was er dann dort tun will, das weiß er noch nicht. So wie er überhaupt wenig vom Leben außerhalb kennt. Das Leben an sich aber, mit all seinen Abgründen, kennt er – versucht er das Geld für den Neustart doch durch das Einschmuggeln und Verkaufen von Alkohol zu verdienen.

Im Stil eines Dokumentarfilms folgt die Kamera mal Johnny, mal Jashaun, mal ihrer Mutter, bewegt sich immer nah an den Protagonist*innen, driftet mit ihnen durch das Leben an einem Ort, an dem Viele aufgegeben haben, im Alkohol versinken und nur Wenige noch von etwas träumen.

In Vignetten erzählt Zhao ganz nebenbei von den Problemen, mit denen die amerikanischen Ureinwohner*innen hier konfrontiert sind. Sie zeigt die Folgen des Alkoholmissbrauchs, zeigt die zerstörten Familien, zeigt diejenigen, die in der christlichen Religion ihren Halt suchen und jene, die in ihren Wurzeln, ihren Traditionen Zuflucht finden und gegen die Lebensbedingungen demonstrieren.

„Pine Ridge“ ist dabei nicht zufällig gewählt. Es ist das Reservat der Oglala Lakota, in dem 1890 das „Wounded Knee“-Massaker durch Soldaten der US-Armee verübt wurde. Rund 300 Lakota wurden von den Soldaten erschossen, 200 von ihnen waren Frauen und Kinder. Der geschichtliche Hintergrund wird nur kurz angerissen in einem Gespräch zwischen Jashaun und Travis (Travis Lone Hill), der ihr ein Pow-Wow-Kleid nähen soll. Jashaun fragt Travis, warum auf seinen Designs immer eine Sieben zu sehen ist. Er antwortet, dass diese Zahl sehr mächtig sei: „In der Bibel findest Du sie überall… und hier in ‚Wounded Knee’ heißt es, mit der siebten Generation geht es wieder los. Die siebte Generation bist Du.“

Jashaun ist der Gegenentwurf zu Johnny. Sie ist diejenige, die sich für die Tradition interessiert, die mit dem Pow-Wow-Kleid an den Tänzen teilnehmen will, die anders als ihr Bruder eine Verwurzelung in diesem Land spürt.
Den krassen Gegensatz zwischen der Lebenssituation am Rande des Existenzminimums und der Schönheit der Natur fängt Kameramann Joshua James Richards in epischen Landschaftspanoramen ein. Mal in der Perspektive der Totale, mal in Supertotale streift die Kamera über die Sedimenthügel der Badlands, lässt eine Straße bis zum Horizont Präriegras durchschneiden, malt ein Bild von Freiheit und Weite, das im krassen Gegensatz zur Enge der Möglichkeiten steht, die die Menschen hier zur Gestaltung ihres Lebens haben. Zhao, die auch für den Schnitt ihres Films verantwortlich ist, legt diese Bilder zwischen die Vignetten aus dem Leben der Protagonist*innen – so als wolle sie mit diesem ästhetischen Bruch daran erinnern, dass es kein Dokumentarfilm ist, den man hier sieht. Vielmehr arbeitet sie in der Tradition des italienischen Neorealismus. Wie Roberto Rossellini und Vittorio De Sica nimmt sie die Menschen als Protagonist*innen, die selten im Fokus von Spielfilmen stehen: die Ureinwohner*innen, die sozial Ausgegrenzten, die unterste Arbeiterklasse – ein Weg, den sie mit ihrem oscarnominierten Film Nomadland (2020) konsequent weitergeht.

Ihren Zuschauern verlangt Zhao auch deshalb Konzentration ab, weil sie sparsam mit Dialogen arbeitet. Informationen vermittelt sie lieber über Bilder als über zusätzlichen Text – das vergebliche Werben der Mutter um einen neuen Mann wird allein in zwei kurzen Szenen, in denen man sie erst am Herd beim Kochen, dann mit Lightbier und leerem Blick auf der Matratze neben Johnny sitzen sieht, abgearbeitet Gesprochen wird kein Wort. Dass der Mann, für den hier das Essen gekocht wurde, das er sich zuvor explizit so gewünscht hatte, nicht gekommen ist, muss man sich schon selbst zusammenzählen.

Zhao gelingt es, einfühlsam die Geschichte dieser Menschen zu erzählen, ohne dabei den moralischen Zeigefinger zu erheben oder in düsterer Dystopiestimmung zu versinken. Es sind gerade die künstlerischen Entscheidungen, auch die Schönheit zuzulassen, die sie mal in der Landschaft, mal in einer Umarmung der Geschwister findet, die eine größere Wahrheit über das Leben transportieren und die diesen Film eben nicht zum bloßen dokumentarischen Abdruck der Realität machen, sondern die Beobachtung zu Kunst verdichten. Zhaos Menschenbild bleibt dabei hoffnungsvoll, denn trotz aller Widerstände finden ihre Figuren Halt in der Gemeinschaft, sind im Stande, um Hilfe zu bitten oder sie anzunehmen. Dass sie diese Haltung gerade in den Vereinigten Staaten sucht, dem Land, das sich wirtschaftlichen Liberalismus und die Herrschaft des Individuums auf die Fahne geschrieben hat, zeugt vom großen Mut einer jungen Künstlerin.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/songs-my-brothers-taught-me-2015