Coconut Hero

Herausragendes Meisterwerk mit einem einzigen Fehler

Der Rezensent hat es etwas schwer mit diesem Film. Denn er fühlt sich moralisch verpflichtet, die Menschen, jeden Menschen auf der Welt, davon zu überzeugen, sich den Film Coconut Hero anzusehen. Allein: Der Filmtitel steht sehr im Wege. Wer will einen Kokosnusshelden-Film sehen? Bestenfalls kann sich der mögliche Zuschauer nichts unter diesem Titel vorstellen; schlimmstenfalls eine "Rettet den Urwald"-Doku oder einen Tarzan-Klamauk.(Und für die Porno-Version fehlt lediglich ein K).
Jedenfalls nicht das, was dieser Film ist, eine großartige, gefühlvolle, sehr witzige und sehr tragische Coming-of-Age-Geschichte, die in der obersten Liga nordamerikanischer Independentkomödien mitspielt - und eigentlich ein deutscher Film ist. Florian Cossen, der mit seinem Debütfilm Das Lied in mir in Südamerika zugange war, lässt diese Geschichte in den unendlich weiten Wälder Kanadas spielen; und vermutlich kann dieser Film auch nur dort seine Wirkung entfalten, in einem Holzfällerkaff, wo jeder jeden kennt, weil jeder andere Mensch meilenweit entfernt ist.

Hier lebt Mike Tyson. Nicht zu verwechseln mit dem Boxer. Mike probiert die alte, lange Flinte aus; telefoniert mit der Zeitung und gibt seine eigene Todesanzeige auf. Legt den Boden mit Abdeckfolie aus, schreibt einen Abschiedserinnerungszettel an seine Mutter, dass sie nicht vergisst, den Fisch zu füttern. Dann drückt er ab. Und ersteht wieder auf, im Krankenhaus, nicht von den Toten, sondern von den Ohnmächtigen. Ein Filmanfang, der sofort gefangen nimmt mit dem lakonischen Humor, der hier an einen Suizidversuch angelegt wird - ein Feeling von Harold und Maude durchzieht den Film, die schwarzhumorige Tragikomik des lebensüberdrüssigen Jugendlichen - und in der Tat gelingt es Cossen wie einst Hal Ashby, die perfekte Balance der Gefühle, das perfekte Gespür für die Inszenierung zu etablieren und zu erhalten.

Wenn wir Mikes Mutter kennenlernen, haben wir bald eine Ahnung davon, warum es Mike nicht mehr aushält. Eine ständig nörgelnde Mutter, die sich einmischt, die nicht zuhört, die um sich selbst kreist. Eine Mutter, die dennoch nie zur Karikatur gerät - dazu sind die Verletzungen, die sie in ihrem Leben erfahren hat, zu groß. Eine Mutter, die dennoch nervt. So wie überhaupt spürbar wird, wie wenig Mike anfangen kann mit diesen Menschen in diesem kleinen Örtchen; keiner hört zu, aber jeder redet. Der Pfarrer gibt Platitüden von sich, die auf Mike anders wirken als intendiert: Wenn du ein festes Ziel hast, wird dir Jesus helfen... also betet Mike abends, wiewohl die Mutter es verbietet ("Erst betest du, als nächstes fliegst du mit einem Flugzeug in ein Hochhaus" - auch die Dialoge des Films sind hervorragend). Und sein Gebet wird erhört: Untersuchungen nach dem "Unfall" mit dem Gewehr ergeben: Gehirntumor. Im Hinterkopf. Walnussgroß.

Tragik - die sich als Komik entfaltet. Denn Mike radelt nach Hause, und die ganze Welt stimmt sich ein in die Glückschoreographie in seinem Kopf, ein Tanz der ganzen Stadt, der in einem hochbefriedigenden Racheakt an den doofen Kids kulminiert, die ihn immer wegen seines Namens ärgern. Endlich sich nicht geschlagen geben, sondern auftrumpfen!

Mike sieht glücklich seinem Ende entgegen, und der Zuschauer bangt um den Film: Wird es jetzt konventionell? Wird er schlicht die Liebe finden, wie sie jedem Teenager zufällt, die ihn dann zurückholt ins Leben? Florian Cossen und seine Co-Autorin und Co-Regisseurin Elena von Saucken machen alles richtig. Geschickt biegen sie ab, wo das Klischee droht. Denn das Mädel der Geschichte ist zwar an Mike interessiert - so etwas wie Flirt, Anmache oder gar Verliebtsein passt allerdings überhaupt nicht in sein Konzept des Lebens. Er braucht vielmehr ihren Pickup-Truck und sie selbst als Fahrerin, will er doch im örtlichen Sägewerk Bretter klauen, um sich einen Sarg zu zimmern. Und auch der Vater - Sebastian Schipper als der deutsche Anteil vor der Kamera -, der plötzlich, nach 15 Jahren, wieder in sein Leben tritt: Wenn sie beim Bier in der Bar sitzen, hat der Papa nur ausweichende Antworten; nach einem gemeinsam verbrachten Nachmittag beginnt der Vater sofort wieder herzlich mit der Mutter zu streiten. Hier entwickelt sich keine lebensbejahende Vater-Sohn-Geschichte, nein, mit dem Vater kann Mike auch nicht viel anfangen.

Wie sehr auch im Kleinen Cossen und von Saucken wissen, was sie tun, was sie tun müssen: Wenn Mike und Miranda, an der er dann doch ein gewisses Interesse entwickelt hat, allein unterwegs sind, machen sie Halt an einem See. Sie zieht sich aus, um zu baden. Die erotische Spannung liegt in der Luft. Er ihr hinterher, im Wasser kommen sie sich näher, der typische Emotionsmoment für den ersten Kuss - und sie umarmen sich. Sie geben sich Halt, sie trösten sich, viel Liebe liegt darin und viel Verständnis, eine tiefe Zusammengehörigkeit, und das ist weit, weit mehr als das nahe liegende Knutschen.

Bleibt der Titel. "Mike Tyson aus unserem Film hat ein eigenwilliges Hobby: er bastelt Bilder mit toten Fliegen", sagt Cossen. "Eines davon [...]: COCONUT HERO. Es zeigt eine Fliege, die auf einem Turm aus drei Stühlen balanciert und dabei den Erdball in Form einer Kokosnuss über dem Kopf trägt. Drei weitere Fliegen schauen von unten begeistert zu ihr auf. Dieses heldenhafte über sich selbst Hinauswachsen, das erleben wir ja auch mit Mike während des Films. Am Anfang will er tot sein, am Ende ist er Held seines eigenen Lebens." Kurz: Um ein symbolisches Bild, das im Film wirklich nur eine kleine Rolle spielt, zu rechtfertigen, wird mit dem Titel dem Zuschauer ein Rätsel aufgegeben, das dieser von vornherein gar nicht lösen will - wie gesagt: Das ist der einzige Fehler an diesem herausragenden Meisterwerk.

(Festivalkritik Filmfest München 2015 von Harald Mühlbeyer)

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/coconut-hero