Folge meiner Stimme

Von listigen Füchsen und kurdischen Waffen

Eine Filmkritik von Maria Wiesner

Wie erzählt man Märchen im Kino? Der türkische Regisseur Hüseyin Karabey greift für seinen Film Folge meiner Stimme auf die alte kurdische Tradition der mündlichen Überlieferung zurück: Um einen wandernden Geschichtenerzähler, den Dengbej, versammelt sich abends die Dorfgemeinde und lauscht mit großen Augen. Der blinde Dengbej (Muhsin Tokçu) erzählt die Geschichte von Großmutter Berfe (Feride Gezer), ihrem Sohn Temo (Tuncay Akdemir) und ihrer Enkelin Jiyan (Melek Ülger). Sie leben in einem kurdischen Dorf, das eines Nachts von türkischen Soldaten auf den Kopf gestellt wird. Sie suchen nach Waffen, finden aber keine und nehmen kurzerhand alle Männer mit. Nur wenn ihre Verwandten die versteckten Waffen abliefern, so die Ansage des Kommandanten, werden die Männer wieder freigelassen. Das Dumme daran: Es gibt tatsächlich keine Waffen im Dorf.
Es folgt der kafkaesk anmutende Versuch Berfes, eine Waffe zu beschaffen, um ihren Sohn zu befreien. Immer wieder stößt sie dabei auf Widerstände und unüberwindbar scheinende Hindernisse: mal ist eine Waffe aus den Anfängen der türkischen Republik zu alt, mal will man ihr einziges Schaf nicht zum Tausch gegen ein Gewehr nehmen, dann werden die Schmuggler kurz vor der Übergabe verhaftet. Aber Berfe und ihre Enkelin Jiyan geben nicht auf.

Der kurdisch-stämmige Regisseur Karabey nutzt die Erzählform des Märchens, um diesen hochpolitischen Einblick in die Welt der kurdischen Bevölkerung in einem völlig unaufgeregten Ton zu erzählen. Hier wird nicht vordergründig angeklagt, hier wird Alltag wiedergegeben. Dass der zum Teil aus Willkür und Besatzung besteht, aber auch geprägt ist von kulturellen Differenzen, zeigt sich an subtilen Erzähleinschüben: Wenn der Fahrer des Autobusses kurz vor der Straßenkontrolle die Kassette mit kurdischer Musik gegen türkische auswechselt, wenn Berfe sich wieder und wieder beim Wandern ins nächste Dorf von türkischen Soldaten durchsuchen lassen muss oder die Enkelin für die Großmutter übersetzen muss, was der Kommandeur auf türkisch gesagt hat.

Zwischen all dem liegen die messerscharfen Panoramen, die die Natur rund um den Van-See in Ostanatolien zeigen: Schneebedeckte Berggipfel, saftig-grüne Wiesen durchzogen von den weißen Linien der Schafherden. Anne Misselwitz' Kamera hat diese Bilder in umwerfenden Totalen eingefangen, die das Erzählte in Beziehung zur Landschaft setzen und gleichsam hinterfragen. Wie nichtig kann angesichts der Anmut dieser Natur ein Konflikt zwischen Ethnien wirken?

Folge meiner Stimme funktioniert gerade deshalb auch auf mehreren Ebenen. Es ist nicht nur ein politischer Film, es ist auch ein Road-Movie, eine Generationengeschichte und ein Einblick in die Erzähltradition des Landes. Denn nicht nur der blinde Dengbej erzählt eine Geschichte; ganz in der orientalischen Erzähltradition gibt es Geschichten innerhalb der Geschichte. Über die Länge des gesamten Films gestreckt, spinnt Berfe für ihre Enkelin die alte kurdische Fabel vom listigen Fuchs, der seinen schönen Schwanz verlor und gegen unzählige Widerstände anrennen muss, um ihn wiederzubekommen. Die Fabel wird zum Sinnbild der Suche nach der Waffe, die der kleinen Jiyan den Vater zurückbringen kann. Auch hier zeigt sich wiederum die Vielschichtigkeit in Karabeys Erzählstil.

Wie also erzählt man ein Märchen im Kino? Man braucht eine gute Geschichte und eine schöne Stimme. Mit Folge meiner Stimme hat Regisseur Hüseyin Karabey beides zusammengebracht – eine Familienfabel, die gleichzeitig einen tiefen Einblick in den aktuellen Kurden-Konflikt liefert.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/folge-meiner-stimme