Aus einem nahen Land

Rhythmus der Verunsicherung

Eine Filmkritik von Patrick Holzapfel

Manfred Neuwirths Aus einem nahen Land ist auf den ersten Blick einer jener vielen formalistischen Essay- oder Dokumentarfilme, denen man im zeitgenössischen österreichischen Film begegnet. Aber nach einiger Zeit, die man in den asynchronen und deformierten Welten des Filmemachers verbringt, muss man sich eingestehen, dass er schlicht in einer eigenen Liga spielt. In 24 Einstellungen, die von Schwarzblenden getrennt werden, erforscht der Film ein Weingut in Kritzendorf, einer kleinen Gemeinde an der Donau.
Dabei schafft Neuwirth einen formal hermetischen Raum, der dennoch voller Leben steckt. In jeder Einstellung fährt die Kamera in Zeitlupe nach links und wieder zurück und blickt auf völlig unterschiedliche Aspekte des Lebens rund um den Wein. Wir lernen den Heurigen kennen, die Weinernte, den Bauernhof und einen Holzstapel. Gleichzeitig nimmt man eine komplexe Ton- und Musikuntermalung wahr. Diese scheint zwar immer mit dem jeweiligen Bild in Zusammenhang zu stehen, verhält sich aber nicht zuletzt aufgrund der Zeitlupe asynchron zum Bild. Aus dem Zusammenspiel von Bewegung, Verlangsamung und Ton entsteht ein Sog, der einem das Nahe(liegende) fern erscheinen lässt. Denn eigentlich ist der Film für Neuwirth eine Heimaterkundung (er stammt aus der Nachbargemeinde), dennoch ist man sich weder sicher, ob man da gerade die Realität oder eine Fiktion sieht, einen bekannten oder fremden Ort.

Damit ist Aus einem nahen Land vor allem eine Frage an unsere Wahrnehmung. Sehen wir eine Verfremdung oder eine subjektive Wahrnehmung? Der Film legt eine neue räumliche und zeitliche Perspektive auf ein vertrautes Terrain, er wird zu einem Bildgedicht der Verunsicherung, das sich trotz des Unbehagens jederzeit wie ein romantischer Tagtraum im Schatten einiger Bäume anfühlt. Für Neuwirth setzt sich ein Blick auf Orte nicht aus Narrativen oder Bildern alleine zusammen, sondern aus seinen Entdeckungen in Bildern, Tönen, Menschen, Räumen und der Zeit. Da sich diese Dinge nicht zwangsläufig zu einer kausalen Gesamtstruktur fügen, begeht man diesen Film in einer großen Freiheit, der die fehlende Kausalität durch eine geographische Sinnlichkeit ersetzt. Was Neuwirth letztlich gelingt, ist den Rhythmus des Ortes auf Film zu bannen.

Gerahmt wird der Film durch Schafe, die in der ersten und letzten Einstellung zu sehen sind. Diese Rahmung ist womöglich die einzige Schwäche des Films, denn sie baut einen völlig unnötigen Zusammenhang auf, der letztlich nichts mit den Beobachtungen zu tun hat und nur absurde Interpretationen nahelegt. Letztlich sprechen aber auch diese beiden Einstellungen für sich, denn die Bedrohung, die von den Tieren und ihren Geräuschen ausgeht (man denkt an den Beginn von Satanstango von Béla Tarr), bricht sich mit ihrer Niedlichkeit, bricht sich mit ihrer Beiläufigkeit, bricht sich mit ihrem Verschwinden ins Off bis in die Unendlichkeit, in der wir uns zurücklehnen dürfen und zusehen können.

Neben all diesen Wahrnehmungsspielen und sicherlich subjektiven Eindrücken und Rätseln ist der Film auch eine Dokumentation über ein Territorium und eine Arbeit. Es ist kaum zu beschreiben, wie gerade durch die gewählte Form Ort und Arbeit spürbar werden. Einmal sehen wir zwei Männer an einem Gerät. Dadurch, dass man das metallene Geräusch inmitten dieser Idylle zeitversetzt hört, spürt man die Kraft, die nötig ist. Es ist fast wie ein Schwindel, eine Taubheit unter der Last der Arbeit. An anderer Stelle steht der Bildhintergrund scheinbar schief. Man fühlt sich plötzlich isoliert, wie auf einem anderen Planeten, der keinen Kontakt mehr zur restlichen Welt hat.

Genau das kann man nicht vom Film selbst behaupten. Durch die strenge Form öffnen sich erst Räume, die eine Realität eben nicht als gegeben ansehen, sondern als Auslöser einer Neugier unserer Blicke. Damit scheint Neuwirth ein Verwandter von James Benning zu sein. In Wahrheit blickt er jedoch so weit durch die Oberflächen dessen, was sich vor seiner Kamera bewegt oder nicht bewegt hindurch, dass mir hier trotz aller formalen Unterschiede ein Vergleich mit Frederick Wiseman besser erscheint. Am Ende ist Manfred Neuwirth aber Manfred Neuwirth und Aus einem nahen Land ein faszinierendes Gedicht aus Tönen und Bildern.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/aus-einem-nahen-land