Mittwoch 04:45

Die Uhr der Lebenslügen tickt

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Stelios (Stelios Mainas) sieht die Welt längst nicht mehr mit den Augen des hoffnungsvollen jungen Mannes, der er einmal war. Vor allem der Glaube der Jugend, sie habe ewig Zeit, offenbart sich dem Graubärtigen als fataler Irrtum. Stelios hat sogar nur noch einen einzigen Tag Zeit, sein Leben und das seiner Familie zu retten: Der rumänische Mafioso (Mimi Branescu), dem er über 148.000 Euro schuldet, fordert die Summe plötzlich mit Nachdruck zurück. Stelios hat das Geld nicht, aber er könnte seinen Athener Jazzclub hergeben. Der ist allerdings sein Lebenswerk, in das er in den vergangenen 17 Jahren seine ganze Kraft investierte.
Der griechische Regisseur und Drehbuchautor Alexis Alexiou erzählt mit Stelios als Frontfigur die Geschichte eines kollektiven bösen Erwachens. Die Menschen in diesem Film sind verwundet und gereizt, sie fühlen sich betrogen und schlagen zurück. In Athen – es ist der Winter des Jahres 2010 – werden aus Protest gegen die Sparpolitik der Regierung Weihnachtsbäume angezündet: Die Wut kippt in Selbstzerstörung, sie richtet sich gegen die tradierten Werte und Überzeugungen, als wären sie Lügen. Stelios' Lebensbilanz gerät zur schmerzhaften Selbstprüfung, seine Gegner befinden sich nicht nur in der Außenwelt. Der spannend inszenierte Thriller wird zur Parabel über die griechische Krise und ragt damit weit über die durchschnittliche Genrekost hinaus.

Die Geschichte beginnt am späten Montagabend und endet am Mittwochmorgen. Sie ist in Kapitel unterteilt, denen der Wochentag und die Uhrzeit sowie eine kurze Aussage wie "Der Kunde hat immer recht" als Überschriften dienen. Melancholische Schlager über die Liebe, die Sehnsucht und die Einsamkeit erklingen am Anfang der Kapitel. Stelios muss als Pate zu einer Taufe, seine Tochter zu einem Termin fahren, seine Frau besänftigen, die ihm mit unverhohlener Verachtung begegnet: Ihre Vorwürfe aber, dass ihm seine beiden Kinder fremd seien, kann er nicht entkräften. Ein Wortwechsel im Auto beweist, dass er keine Ahnung hat, wann die Tochter Musikunterricht hat und welches Instrument sie spielt. Stelios verspricht Besserung – aber wahrscheinlich werden die Geschäfte wieder einmal dazwischenkommen: Die Geliebte wartet, die Musikanlage zickt wie üblich, die Jazz-Band verlangt ein besseres Hotelzimmer und der Koks-Vorrat geht zur Neige. Vor allem aber muss sich einer, der die Mafia am Hals hat, schnell einen Fahrplan zurechtlegen und für den äußersten Notfall eine Pistole.

Stelios ist nur ein Glied in einer Kette von Schuldnern. Die Rechnung geht weit über das Finanzielle hinaus und wird von den Vätern an die Söhne weitervererbt. Stelios geht oft mit offenen Schnürsenkeln herum, wie der kleine Sohn des albanischen Nachtclub-Besitzers Omer (Giorgos Symeonidis). Dieser Vater, der sich in der griechischen Gesellschaft diskriminiert fühlt, gibt den Druck an den Kleinen weiter und beschimpft ihn unbarmherzig. Um ein Mann zu sein, müsse er Verantwortung übernehmen! Wenn Stelios immer noch nicht auf seine Schuhe achtet, heißt das in diesem Bild, dass er nicht richtig funktioniert. Er ist zu weich und zu naiv für kriminelle oder auch nur skrupellose Geschäfte, aber auch zu unaufrichtig, um nicht zu versuchen, die eigene Verantwortung wie einen Staffelstab weiterzureichen.

Oft ist es Nacht auf dieser Reise durch die innere Dunkelheit. Die Sinneseindrücke der Großstadt bedrängen Stelios als unsortiertes Ensemble, als Spiegelungen, Unschärfen. Die Gewalt bricht sich jäh mit verstörender Brutalität Bahn, etwa wenn – immerhin ist dies eine europäische Stadt – eine Gruppe Minderjähriger einen Mord begeht und ungeschoren davonkommt. Wieder taucht das Thema der Generationenschuld auf: Die Zivilisation kollabiert, weil sie ihre Werte verraten hat. Die Väter müssen abdanken, scheint dieser dichte, vielschichtige Film, der viel Diskussionsstoff bietet, zu sagen. Aber vorher gilt es, Rechenschaft abzulegen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/mittwoch-0445