Schmitke

Keine Spur von Brotkrumen

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Julius Schmitke (Peter Kurth) träumt vom Wald. Manchmal weiß er nicht, ob ihm wirklich etwas am Erwachen liegt: Am Tage ist er ein in die Jahre gekommener, etwas spießiger und von seinen Mitmenschen genervter Windkraft-Ingenieur. Des Nachts suchen ihn Visionen des düsteren Forsts heim, um den sich so viele deutsche Legenden und Märchen ranken. Die Natur erscheint ihm freier als die fest betonierte Routine der Großstadt. Nach einem Fehler seines nachlässigen Proll-Azubis Thomas (Johann Jürgens) wird er von seinem Chef zu Reparaturarbeiten an einem alten Windrad an die deutsch-tschechische Grenze geschickt. Die eigenbrötlerischen Dorfbewohner vor Ort erweisen sich dabei als wenig kooperativ, statt Hilfe bieten sie merkwürdige Geschichten über die Geister des Waldes an. Bald wird deutlich, dass die Realität des Unterholzes deutlich bedrohlicher ist, als das Wunderbäumchen im Firmenwagen… Mit seinem Spielfilmdebüt Schmitke schafft der tschechische Regisseur Štěpán Altrichter eine eigenwillige Mischung aus psychologischem Mystery-Horror, fish-out-of-water-Komödie, Heimatfilm und Drama über das Altern.
Angesichts von Schmitkes Beruf erscheint es nur konsequent, dass auch der Film funktioniert wie die Konstruktion eines emsigen Tüftlers: Versatzstücke, die auf den ersten Blick nur schwer miteinander zu vereinen erscheinen, greifen ineinander wie Zahnräder. Altrichter bedient sich bei vielen verschiedenen Vorbildern. Die eingeschworene Gemeinde erinnert an David Lynchs Kultserie Twin Peaks (vor allem während den Ausführungen der inoffiziellen "Bürgermeisterin" Julinka (Johanka Schmidtmajerová)), manchmal sogar an eine osteuropäische Version von H. P. Lovecrafts Schatten über Innsmouth. Auch wenn es keine offensichtliche Gewalt gibt, klingen manchmal amerikanische Backwoods-Slasher an.

Der Protagonist selbst hingegen scheint einem Film von Aki Kaurismäki entstiegen zu sein: Peter Kurth spielt den titelgebenden Helden als Griesgram mit Angst vor dem Kontrollverlust, es umweht ihn jedoch auch eine Aura von entrückter Beiläufigkeit. Seit längerer Zeit hört er in den Nachrichten von einem mysteriösen "Bärenmann", der ihm auf Zeitungsbildern verdächtig ähnlich sieht. Als Techniker mit innerer Sehnsucht nach der Natur scheint er in einem nur schwer zu lösenden Widerspruch gefangen. Seiner esoterisch veranlagten Tochter Anne (Lana Cooper) erklärt er, als sie ihm mit leuchtenden Augen von der Energie ihres Onyxes erzählt, ganz trocken: "Das ist doch nur ‘n Stein, ne?". Es gibt viele solcher Zeilen und Dialoge: Altrichter entlockt seinem absurden Szenario, vor allem der Schilderung des ländlichen Tschechiens, viel Humor, ohne dabei jeweils die Empathie in seinem Blick zu verlieren. Bodenständige Kneipenszenerien mit schief spielenden Alleinunterhaltern haben ihren ganz eigenen Charme.

Doch dieser scheint gerade bei Schmitke nicht zu wirken, der sich zunehmend unwohl fühlt. Immer wieder wird er mit beschädigten Apparaturen konfrontiert, und wenn der Wiedergänger Homo Fabers dann reflexartig zum Schraubschlüssel greift, wirkt er, als wollte er gleich die Welt in ihrer Gesamtheit reparieren – vielleicht, damit sie nicht vollends aus den Fugen gerät. Das erscheint durchaus eine ernstzunehmende Gefahr: Genau wie das ewig knarzende Windrad C-174 scheint auch Schmitkes Weltbild (vielleicht sein betagter Körper, vielleicht sogar der Film selbst?) kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Die klassischen narrativen Strukturen zerfasern mit laufender Spielzeit immer weiter. Ganze Sequenzen bekommen eine alptraumhafte Qualität.

Die Art, fast wie in Schleifen ähnliche Einzelbilder und Szenen zu wiederholen, erinnert an Jessica Hausners Hotel, ohne dabei jedoch jemals ähnlich weit zu gehen. In seinen Soundlandschaften steht der Film den österreichischen Horror-Loops jedoch in Nichts nach: Schmitke ist erfüllt von unheilschwangerem Knarzen, überall knackt, brummt und dröhnt es. Gemeinsam mit den oft nebelverhangenen Landschaftsaufnahmen entsteht eine verstörende, unbehagliche Stimmung. Die dichten Baum-Meere des Erzgebirges werden Seelenlandschaften von schrecklicher Schönheit, Julius Schmitke verläuft sich in sich selbst.

Spätestens als am zweiten Tag im Hinterland Azubi Thomas – eine Figur, die einer deutschen Gegenwarts-Komödie wie Fack ju Göhte entliehen sein könnte – plötzlich verschwunden ist und die am Vortag noch als Geschwätz abgetanen Spukgeschichten neue Glaubwürdigkeit bekommen, ist der Sehnsuchtsort Wald endgültig entzaubert. Jegliche Jack-Wolfskin-Romantik geht im schier endlosen Baumlabyrinth verloren und selbst der größte Naturenthusiast wird sich nach den Errungenschaften der Zivilisation sehnen. Später erfährt Schmitke, dass der Forst untertunnelt ist. Offenkundiger können die verborgenen Abgründe unter Moos und Kiefernnadeln nicht mehr werden.

Nachdem der Film sich im letzten Drittel verirrt, findet das Ende doch wieder auf die abgesicherten Wanderwege und bietet einen trügerisch versöhnlichen Abschluss. Alle Konflikte scheinen sich in Sonnenschein aufgelöst zu haben und die dichten Nebelschwaden lüften sich. Doch Altrichter erzählt kein Märchen, in dem eine Spur aus Brotkrumen wieder zurück in die Welt der Menschen führt. Schnell wird klar, dass kein Rätsel wirklich aufgelöst ist. Schmitke bietet keine naive "going native"-Geschichte und keinen Selbstfindungstrip nach Art von Jean-Marc Vallées Der große Trip – Wild, sondern eine unsentimentale Erforschung der kuriosen Landlust moderner Großstädter. Eines ist sicher: Julius träumt auch weiterhin vom Wald, genau wie viele anderen. Schmitke weckt die Lust nach dem Erwachen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/schmitke