Manchmal denke ich plötzlich an dich (2024)

Böse Tochter, böse Mutter?

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

„Hänsel und Gretel verirrten sich im Wald“, singen Vater und Tochter im Auto, auf der Fahrt zum Ferienhaus auf der Hallig Hooge; und „Maria durch den Dornwald ging“ erklingt immer wieder im Film. „Manchmal denke ich plötzlich an dich“ ist nicht sonderlich subtil in der Ausstellung seines Themas: Die Mutter, die sich verloren fühlt, die sich verliert. An der etwas nagt – Erinnerungen? Eifersucht? Befürchtungen? Oder reale Bedrohungen?

Regisseurin Lynn Oona Baur nutzt exzessive Symbolik in ihrem Film, immer wieder Eier – Fruchtbarkeit! –, eine Sandburg, die in der Flut untergeht, Türen und Schlösser, Zahn- und Haarausfall, und überhaupt die Hallig, stets von der Sturmflut bedroht. Das ist zunächst plakativ, entwickelt aber gerade in der Häufung ein mehr und mehr faszinierendes Eigenleben, eine mythische Überhöhung, zu der noch Rituale wie das Biike-Feuer kommt, zur Vertreibung der Wintergeister wie auch zur Bestätigung weiblicher Macht; oder Marta, die alte Frau mit Kinderwagen, die so etwas wie die Urmutter überhaupt sein könnte.

Doch vor allem geht es um die Frau, Lilith, um ihren Mann Adam und um die Tochter Lulu; auch die Namen natürlich super-symbolisch, Dämon-Urmann-Verführerin … Lulu ist in ihren Vater vernarrt, Lilith fühlt sich oft genug ausgeschlossen, und dass sie humorlos und mit kurzer Zündschnur reagiert, ist vielleicht Zeichen ihrer mehr oder weniger uneingestandenen Eifersucht.

Kinder im Grundschulalter haben manchmal eine Papa-Phase, in der sie fixiert sind auf den Vater – Sigmund Freuds Ödipus-These ist zwar häufig genug, nicht zuletzt von Freud selbst, allzu überdehnt, aber es hat natürlich seine Gründe, warum Freud überhaupt auf diese Idee gekommen ist. Doch mehr als Ausgeschlossenheit scheint Lilith umzutreiben. Das kann Depression sein oder Psychose. Und der Film spielt mit der Ambivalenz. Immer wieder sieht sie eine Gestalt in gelbem Regenmantel, was sowas bedeuten kann, wissen wir seit Wenn die Gondeln Trauer tragen.

Immer stärker baut Baur die mysteriöse Atmosphäre auf: Vielleicht ist das Kind tatsächlich böse? Auf Lilith Nachttisch sitzt irgendwann, schön drapiert, Lulus Barbiepuppe, mit abgerissenem Kopf, schön blutig-rot, mit Farbe ausgestaltet. Sie rächt sich, reißt einer anderen Puppe ebenfalls den Kopf ab. Einmal, gegen Ende schon, da ist Lulu ganz lieb, hat den Frühstückstisch gedeckt. Und auf dem Herd ist eine Pfanne, die ist so heiß, dass sich Lilith verbrennen muss.

Oder ist Lilith eine mythisch böse Mutter, die ihre Tochter hasst, nur weil diese eben Kind ist? Weil sie um Aufmerksamkeit buhlt? Überhaupt, die Mutterschaft: Adam mahnt sie, nicht zu rauchen – offenbar ist Lilith schwanger. Dann aber wiederum blutet sie, und sie erklärt der Kleinen detailliert die Menstruation. Die Tochter versteht offenbar den Abgang von Eizelle, Schleim, Blut aus der Gebärmutter: Sie sticht mit der Gabel in ihr Spiegelei. Geschickt baut Baur derartige Mystifikationen auf, baut damit auch stark einen doppelten Boden der Ungewissheit, des potenziellen Grauens auf.

Leider aber wählt sie für die Auflösung dann die einfachste Möglichkeit. Die Fragen um Frausein, um Mutterschaft, die Abgründigkeit, die der vorhergehende Film geschaffen hat, verpufft. „Mir war es wichtig, keinen universellen Film für oder gegen Kinder zu drehen, sondern diese sehr besondere Phase im Leben einer Frau sicht- und fühlbar zu machen“, erklärt sie, „die existenzielle Bedrohung, die manche Frauen im Limbus zwischen positivem Test und der 12. Schwangerschaftswoche empfinden, filmisch zu übersetzen, war mein Antrieb.“ Für die wirkliche Konsequenz untergründigen Horrors, für den ihr Film immer wieder Ansätze zeigt, hat dieser Antrieb nicht gereicht.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/manchmal-denke-ich-ploetzlich-an-dich-2024