Das fliegende Klassenzimmer (2023)

Wenn der Änderungszwang Opfer fordert

Eine Filmkritik von Markus Fiedler

Vor nunmehr 90 Jahren veröffentlichte Erich Kästner eines seiner bekanntesten Kinderbücher überhaupt: „Das fliegende Klassenzimmer". Im Gegensatz zu seinen anderen bekannten Romanen, in denen zumeist nur eine oder zwei Hauptfiguren vorkommen, schildert Kästner hier die Geschichte mehrerer Internatsschüler und eines Lehrers in eher episodischer Form und beleuchtet dabei Themen, die heute noch genauso relevant sind wie damals. Leider hat Drehbuchautor Gerrit Hermanns die Zeitlosigkeit einiger dieser Momente nicht erkannt und sie aus dem Skript verbannt. Das lässt zwar die Grundidee des Romans noch erkennen, einige der emotionalsten Momente der Vorlage sind aber schlicht nicht zu finden.

Viele der Änderungen, die Hermanns und Regisseurin Carolina Hellsgard dem Publikum präsentieren, sind absolut nachvollziehbar. Dass die von fünf auf vier Kinder heruntergedampfte Gruppe der Internatsschüler nun paritätisch in zwei Jungs und zwei Mädchen aufgeteilt ist, tut der Story auch keinerlei Abbruch. Zumal sich an den Namen auch problemlos zuordnen lässt, welche ehemalige Jungenrolle sie übernommen haben. Auch die Modernisierung von Schulsystemen, die neue Herangehensweise an das titelgebende Theaterstück und weitere Anpassungen an die heutige Zeit wirken homogen und verwässern die Geschichten der Protagonist:innen kaum. Lediglich die Story um den kräftigen Matthias, der trotz seiner kämpferischen Fähigkeiten kein Boxer werden möchte, wirkt etwas bemüht und angesichts der Vorlage, in der es eben auch um gewalttätige Auseinandersetzungen geht, ein wenig zu aufgesetzt. Schlimmer ist, was Regisseurin und Autorin auf emotionaler Ebene geändert haben.

Denn Zuschauer:innen, die das Buch kennen und vielleicht auch eine der drei bisherigen Verfilmungen gesehen haben, wissen, wo das emotionale Zentrum der Geschichte liegt. Und diese Szenen, in denen es um Justus, den Gerechten geht, stark gespielt von Tom Schilling, und den Nichtraucher, ebenfalls wunderbar von Trystan Pütter verkörpert, fährt die neue Version von Das fliegende Klassenzimmer leider voll gegen die Wand. Im Bemühen, auch hier unbedingt etwas anderes erzählen zu wollen als bisher, verliert die neue Version damit ihr schlagendes Herz. Denn dass es keine gute Idee ist, ausgerechnet die stärkste Szene des ganzen Romans zu zerstören, darauf hätte man durchaus kommen können, bei allem guten Willen oder auch gefühltem Zwang, mit Verfilmung Nummer vier etwas Neues zu machen.

Weil gerade diese Szene auch etwas mit den Kindern macht, die darin verwickelt sind, lässt die Neuverfilmung nach diesem Fiasko auch weitere Höhepunkte vermissen, denn Kästners Botschaften von Loyalität und Freundschaft als hohe Güter fehlt so manchmal der emotionale Unterbau. Immerhin bleiben andere starke Elemente, wie etwa die aus armen Verhältnissen stammende Martina, dem Plot erhalten, sodass Kenner des Romans einige Schlüsselszenen wiederfinden. Kästner schrieb besonders in seinen Kinderbüchern am liebsten über Menschen mit Anstand und Moral und ließ sie trotz aller Probleme über die bösartigen und gemeinen Charaktere triumphieren. Diesen Kern lassen Hellsgard und Hermanns unangetastet, auch wenn sie mitunter ein wenig zu brav sein wollen, um glaubhaft zu bleiben. Zwei Gruppen von Kindern, die sich nicht, wie im Original, mit Schneebällen bewerfen, sondern mit Sand, ist so ein Beispiel. Vor der tatsächlichen Gewalt in dieser Szene, wie sie im Roman steht, schreckten die Macher zurück, auch wenn sie im Kontext der Geschichte absolut sinnvoll und in Teilen sogar nötig ist. Natürlich ist es schöner, wenn Menschen ihre Probleme gewaltlos lösen, realistischer wird Das fliegende Klassenzimmer dadurch aber sicher nicht.

Schauspielerisch hingegen gibt sich der Film nur wenig Blößen. Die meisten jungen Darsteller:innen, allen voran Leni Deschner (Himbeeren mit Senf), überzeugen in ihren Rollen. Die Verpflichtung von Hannah Herzsprung als Direktorin Kreuzkamm schließt sogar einen Kreis, spielte doch ihr Vater Bernd als junger Mann in der Version von 1973 den schönen Theodor. Und so bleibt am Ende eine Verfilmung, die vor allem Zuschauer:innen gefallen kann, die weder den Roman noch einen der anderen Filme kennen. Wer bereits mit entsprechendem Vorwissen ins Kino geht, dem wird schnell klar, dass die Version von 2023 leider vor allem da Mängel aufweist, wo sie sich zu weit von Kästners Roman entfernt. Nicht jede Neuerzählung braucht Innovation, manchmal reicht auch Vertrauen in die Stärke der Vorlage.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/das-fliegende-klassenzimmer-2023