Napoleon (2023)

Höher, immer höher

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

1,932 Millionen Euro! Für eben diesen Preis, eine Rekordsumme, wurde am 19.11.2023 in Frankreich einer der berühmten Zweispitzer Napoleon Bonapartes versteigert. Der Korse, der in den Wirren der Französischen Revolution seinen Aufstieg begann, scheint noch immer zu faszinieren. Wie passend, dass nur ein paar Tage später Ridley Scotts monumentale Filmbiografie über Leben und Wirken des Feldherrn und Kaisers in die Kinos kommt. In der Hauptrolle zu sehen ist in der von den Apple Studios in Auftrag gegebenen Produktion Joaquin Phoenix, dem der quergetragene Hut mit den zwei Enden wunderbar steht. Auch sonst macht der für seine Joker-Darbietung mit einem Oscar bedachte US-Schauspieler eine gute Figur, was man über den Film insgesamt leider nicht sagen kann. Zumindest die 159-minütige Leinwandfassung schleppt so manches Problem mit sich herum. Der bereits angekündigte, angeblich viereinhalb Stunden lange Director’s Cut, der irgendwann bei der Streaming-Plattform Apple TV+ erscheinen soll, könnte einiges bereinigen. Vielleicht ist die überlebensgroße Persönlichkeit Napoleon aber selbst damit nicht richtig zu fassen.

Die Kinoversion setzt in den turbulenten Revolutionstagen ein. Zu einem Zeitpunkt, so informieren uns einleitende Texttafeln, da der Militärstratege Bonaparte bereits handfeste Ambitionen verfolgt. Nur in eine Richtung soll es gehen: nach oben. Dafür scheut Napoleon nicht davor zurück, sich selbst mitten ins Getümmel zu schmeißen, um wichtige Siege davonzutragen. Ein solcher ist das Ende der Belagerung von Toulon im Dezember 1793, die maßgeblich der Taktik des korsischen Ehrgeizlings zu verdanken ist. Zunächst etwas angespannt, dann wild entschlossen stürzt sich der Film-Napoleon dem wichtigen Triumph entgegen, der ihn näher an das neue Machtzentrum, die mit Terror operierende Herrschaft der Jakobiner, heranführt. 

Schon in der Anfangsphase des Films wird einer der zentralen Knackpunkte offenbar: Das komplexe Interessengewirr, die unterschiedlichen Phasen der Französischen Revolution, prominente historische Persönlichkeiten, deren Haltungen und Handlungsmotive fliegen zuweilen regelrecht am Publikum vorbei. Hier und da werden Namen und berufliche Positionen ins Bild geschrieben. System haben die Orientierungshinweise jedoch nicht. Ein handfestes Gefühl für die Umbruchszeit zu vermitteln, diese Aufgabe bleibt Napoleon weitgehend schuldig. Was auch deshalb schade ist, weil sich leicht Parallelen zu aktuellen Verwerfungen ziehen ließen. Immerhin nutzen auch heute geltungssüchtige Autokraten in allen Teilen der Welt die Unsicherheit der Menschen und ihre Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen schamlos aus. Im Film mag Napoleon mehrfach davon sprechen, dass er Frieden für Europa wolle. Einmal als Kaiser an der Spitze angekommen, geht es ihm aber sichtbar vor allem um Machterhalt und das eigene Ansehen. 

Joaquin Phoenix verkörpert den Titelantihelden charismatisch, als Bündel unterschiedlicher Facetten: stoisch, aufgebracht, auf alberne Weise lüstern und bockig wie ein Kind, das einfach alles sofort haben möchte – zwischen diesen Polen pendelt seine intensive Performance, die dennoch eine gewisse Leere nicht kaschieren kann. Gerade in wichtigen historischen Momenten versteht man häufig nicht, wie Napoleon zu seinen Entscheidungen kommt, wie genau er denkt, wie seine Strategie im Einzelnen aussieht. Aufstieg und Bestandswahrung um jeden Preis – diese Aspekte nimmt man in erster Linie aus Scotts Kinofassung mit. 

Ambivalentes Herzstück des Films soll die Beziehung zwischen dem Emporkömmling und seiner ersten Ehefrau Joséphine de Beauharnais (Vanessa Kirby) sein, mit der der Herrscher kein Kind zeugen kann. Napoleon braucht einen Erben und opfert seine Gattin letztlich den eigenen Machtinteressen, bleibt aber weiterhin eng mit ihr verbunden. Das Biopic deutet ein spannendes Verhältnis, teilweise auf Augenhöhe, an. Die in Dialogen und Briefausschnitten bekräftigte Behauptung, Napoleon hätte ohne sie nicht so erfolgreich sein können, unterfüttert die Handlung allerdings nie mit stichhaltigen Belegen. Zu wenig darf sich Joséphine entfalten. Zu selten gibt es wirklich einmal die Chance, tiefer in die Partnerschaft einzutauchen.

Dass wir mitunter im Schweinsgalopp von Station zu Station eilen, ist schade. Anerkennen muss man aber sehr wohl, wie überzeugend die handwerkliche Seite ausfällt. Ridley Scott ist noch immer ein Regisseur, dem viel Geld anvertraut wird. Geld, das man hinterher auch auf der Leinwand wiederfindet. Das Kostüm- und Szenenbild von Napoleon lässt die Epoche lebendig werden. Die Aufnahmen von Kameramann Dariusz Wolski sind stimmungsvoll und entfalten, besonders in den Schlachtsequenzen, eine Wucht, die im CGI-lastigen Blockbuster-Kino nicht mehr oft zu finden ist. Kämpfe, das Aufeinanderprallen menschlicher Körper, sehen hier, auch wenn digitale Hilfsmittel ebenfalls zum Einsatz kommen, weniger künstlich aus, fühlen sich erdig und dreckig an.

Tolle Schauwerte liefert Napoleon im Überfluss. Inhaltlich liegt jedoch zu viel im Argen, um der Titelfigur und ihrer Zeit vollauf gerecht zu werden. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, sich auf einen bestimmte Spanne zu konzentrieren. Eventuell könnte auch ein Serienformat das Ganze besser tragen. Gespannt sein darf man vor diesem Hintergrund nicht nur auf die deutlich längere Streaming-Version. Bei der Berlinale 2023 überraschte kein Geringerer als Steven Spielberg mit der Ankündigung, er wolle das legendäre, nie realisierte Napoleon-Projekt seines verstorbenen Kollegen Stanley Kubrick vollenden – nicht als großes Leinwandepos, sondern als aufwendige Serie.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/napoleon-2023