Die Geschichte einer Familie (2021)

Blick zurück in Trauer

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Der Verlust von Familienmitgliedern – und die Wunden der Hinterbliebenen. Schon viele Filme haben sich mit diesem Thema beschäftigt, von „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ (1973) über „Drei Farben: Blau“ (1993) bis hin zu „Rabbit Hole“ (2010) und „Hereditary“ (2018). Auch der theatererfahrene Karsten Dahlem erzählt in seinem Langfilm-Regiedebüt „Die Geschichte einer Familie“ von Schock, Schmerz und Trauma, verursacht durch den Tod eines geliebten Menschen.

Dahlem, der zuvor etwa gemeinsam mit dem Regisseur Stephan Lacant das Drehbuch zu Freier Fall (2013) geschrieben hat, schildert die Situation der zentralen Familie auf zwei Zeitebenen. In Rückblenden sehen wir, wie Christina (Anna Maria Mühe) mit ihren Eltern Werner (Michael Wittenborn) und Karin (Therese Hämer) und ihrem jüngeren Bruder Jochen (Casper von Bülow) in der Provinz lebt und Spaß mit ihrem Freund Sascha (Anton Spieker) und ihrem besten Kumpel Murat (Walid Al-Atiyat) hat. Das Ziel für Christina ist zu jener Zeit ganz klar: Raus aus dem Dorf, rein ins Leben!

Im gegenwärtigen Handlungsstrang, sieben Jahre später, sehen wir jedoch, wie all das – die familiäre Harmonie, das Glück mit Sascha, die optimistischen Zukunftspläne – in Trümmern liegt. Christina hat im Ausland als Fahrerin bei Autostuntshows gejobbt und sitzt nun nach einem schweren Unfall in einem Rollstuhl. Da sie nicht versichert ist und ihr vorerst keine entsprechende Wohnung zugewiesen werden kann, muss sie zurück in ihr altes Elternhaus.

Dort wohnt indes seit Jahren nur noch Werner, der seine Arbeit als Polizist verloren hat und alkoholabhängig ist. Karin hat die Familie verlassen, Sascha lebt mit neuer Partnerin noch immer in dem Ort, den er einst schnellstmöglich hinter sich lassen wollte. Nach und nach erfahren wir, was geschehen ist – und wie das Leben dieser Personen so außer Kontrolle geraten konnte.

Die Regel „Show, don’t tell“ beherrscht Dahlem in seiner Inszenierung ausgesprochen gut: Statt seine Figuren immer wieder erklären zu lassen, wie ihre Beziehungen zueinander sind und sich entwickelt haben, setzt er zusammen mit seinem Kameramann Martin Farkas in erster Linie auf visuelle Methoden zum Vermitteln von Emotionen, Gemütszuständen und (veränderten) Lebenssituationen.

Dabei beschönigen die Bilder nichts. Psychische Erkrankungen wie Alkoholismus und Depressionen sowie deren Konsequenzen für den Alltag von Betroffenen sind hier keine melodramatischen Gimmicks, für die sich dekorative Posen und letztlich einfache Lösungen finden lassen; vielmehr werden sie realistisch dargestellt, ohne dass wiederum das Leid der Figuren ausgebeutet wird. Zugleich ist Die Geschichte einer Familie erstaunlich dicht erzählt – kein Wort, keine Geste zu viel, alles genau beobachtet.

Dazu trägt auch das durchweg überzeugende Ensemble entscheidend bei. Anna Maria Mühe verkörpert die jugendliche Leichtigkeit ebenso glaubwürdig wie die Last, unter der Christina später kaum noch zu atmen vermag. Ebenso liefert Michael Wittenborn eine intensive Schauspielleistung als Vater, den das schlechte Gewissen plagt. Die Figuren machen sich gegenseitig Vorwürfe – können sich aber vor allem selbst nicht verzeihen.

Das erdrückende Gefühl von Schuld wird von Mühe und Wittenborn eindringlich zum Ausdruck gebracht; die beiden werfen sich furchtlos in ihre Rollen. Das macht Die Geschichte einer Familie zu einer beeindruckenden Studie über Trauer und Verzweiflung und über den Versuch, sich nach einer Tragödie wieder ins Leben zu kämpfen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-geschichte-einer-familie-2021