Anatomie eines Falls (2023)

Szenen einer Ehe

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Es hat den Anschein, als seien Gerichtsdramen in Frankreichs Filmindustrie gerade ein großes Thema: Derzeit ist auf deutschen Kinoleinwände vereinzelt noch Alice Diops „Saint Omer“ zu sehen, gerade lief beim Filmfestival in Cannes in der Reihe Quinzaine des Réalisatures Cedric Kahns „The Goldman Case“ und nun folgt mit Justine Triets „Anatomie d’un chute / Anatomy of a Fall“ im Wettbewerb an der Croisette ein weiteres Werk, das über weite Strecken ebenfalls eine Art Gerichtsdrama darstellt. Und man könnte sich schon fragen, was es über den Zustand einer Gesellschaft aussagt, wenn man das Kino als Seismograf derselben wahrnimmt, wenn Filme über Recht und Gerechtigkeit einen derart prominenten Platz einnehmen.

Um es vorwegzunehmen: Triets Film ist einer, der bis zum Schluss sehr konsequent offenlässt, was schlussendlich wirklich geschehen ist. Immer wieder kommen neue Versionen ins Spiel, sei es über kriminaltechnische Untersuchungen, neue Indizien oder Zeugenaussagen, weshalb es ratsam ist, sich zuerst an die reinen Fakten zu halten – und die gehen so: Im Chalet eines deutsch-französischen Schriftstellerpaars ist es zu einem Sturz aus dem Fenster mit Todesfolge gekommen. Der Ehemann Samuel (Samuel Theis) liegt tot auf dem Boden vor dem Haus und niemand weiß, ob es ein Unglücksfall, ein Suizid oder ein Mord war, der ihn zu Tode brachte. Fest steht nur, dass eine tiefe Wunde am Kopf seinen Tod verursachte. Doch es ist unmöglich zu sagen, ob ihm diese vor dem Sturz zugefügt wurde oder diese eine Folge des Sturzes ist. Zudem steht fest, dass sich neben ihm zu dem Zeitpunkt lediglich seine aus Deutschland stammende Ehefrau Sandra (Sandra Hüller) im Haus befand und diese deshalb im Falle eines gewaltsamen Todes die einzige Tatverdächtige ist. Was ebenfalls für diese Hypothese spricht: In der Beziehung der beiden kriselte es gewaltig. Kurz vor seinem Tod hatte Samuels noch ein Interview seiner bisexuellen Frau mit einer attraktiven jüngeren Frau torpediert.

Was Triet aus diesem Stoff macht, ist weitaus mehr als ein Whodunit, sondern vielmehr darüber hinaus die Anatomie einer toxischen Beziehung, deren Leidtragender Sandras  Sohn (Milo Machado Graner) ist, der seit einem Unfall vor einigen Jahren, für den Samuel mitverantwortlich gemacht wird, erblindet ist. Und so kommt als zusätzliche Schwierigkeit hinzu, dass der vielleicht wichtigste Zeuge nicht nur ein Kind, sondern zudem noch blind ist. Und das wiederum führt zu der Situation, dass eine mögliche Tatverdächtige und ein wichtiger Zeuge unter einem Dach leben müssen, das zudem Ort eines schrecklichen Ereignisses war.

Bei dem Gerichtsverfahren, das dann folgt, eröffnet sich dann erst die ganze Tragweite der Tragödie, weil der Staatsanwalt Sandras Bücher als Beweis dafür anführt, dass sie zu einer Tat durchaus in der Lage sein könnte, solch ein Verbrechen mit kühler Berechnung durchzuführen, während ihr Anwalt (Swann Arlaud) seinerseits zu beweisen versucht, dass Samuel für seinen Tod selbst verantwortlich ist. Und am Ende wird klar, dass – egal wie der Prozess ausgeht – es keinen Gewinner, sondern nur Verlierer geben wird. Allen voran der kleine Daniel, aber auch eine Familie, die nicht einmal in der Rückschau eine glücklich gewesen sein wird.

Ob Triets Film nun am Ende bei der Vergabe der Goldenen Palme eine Rolle spielen wird, ist derzeit noch nicht recht auszumachen. Klar aber dürfte sein, dass Sandra Hüller in diesem Jahr mit gleich zwei sehr unterschiedlichen Hauptrollen in Filmen, die zum engeren Favoritenkreis gehören, einen echten Lauf hat, der ihr eigentlich eine Auszeichnung als beste Darstellerin einbringen müsste.

Gesehen beim Filmfestival Cannes 2023

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/anatomie-eines-falls-2023