Absence (2023)

Unbehaust im Betonboom

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Es dauert ungefähr die Länge eines durchschnittlichen Radiosongs, um einen Hummer durchzugaren. Er landet in der Pfanne, als Han Jiangyu (Lee Kang-Sheng ) gerade Karaoke zu singen beginnt, wird aus einem schwanenhälsigen Kessel sorgfältig mit kochendem Wasser übergossen. Noch blinzeln die Stielaugen, zucken die Scheren. Als das Lied am Ende ist, ist es auch der Hummer.

Der unglückliche Zehnfußkrebs ist nur das erste von vielen Tieren, die die Welt von Absence (Xue yun) bevölkern. „Haben Hummer eigentlich eine Seele?“, fragt Han Jiangyu seinen Jugendfreund und erhält darauf keine befriedigende Antwort. Mit schlurfenden Schritten und gesenktem Kopf durchmisst er wie ein geprügelter Hund seine Stadt auf der südchinesischen Insel Hainan (sein Casting passt übrigens perfekt: Sonst gibt Lee Kang-Sheng den geprügelten Hund in den Filmen von Tsai Ming-Liang). Das Hawaii Chinas, sagt man; tropisches Klima, Palmen, Sandstrände. Aber Han Jiangyu war gerade zehn Jahre im Gefängnis und sein erster Weg in Freiheit führt ihn in den Frisiersalon seiner ehemaligen Geliebten Su Hong (Li Meng), die inzwischen eine Tochter ohne offiziellen Vater hat.

Für sein Spielfilmdebüt hat der chinesische Regisseur Wu Lang seinen eigenen 2021 in Cannes präsentierten Kurzfilm adaptiert. Er erzählt die Geschichte eines materiellen und emotionalen Unbehaustseins. Zwar bildet das komplizierte, fast wortlos verhandelte Beziehungsgefüge zwischen den zwei Protagonisten den roten Faden, mindestens ebenso entscheidend ist aber der Kontext. Hainan ist das Zentrum eines Baubooms, der allerlei Halsabschneider anzieht. In Absence stampfen Han Jiangyus alte Freunde ein komplettes Neubaugebiet in bester Lage aus dem Boden und Su Hong ist eine der vielen, die ihr ganzes Geld in eines der Apartments gesteckt haben. Doch schon bald kündigen sich Probleme an. Erst beschweren sich die Arbeiter, schließlich wird der Bau eingestellt, Teile der Geschäftsleitung verkrümeln sich.

Später wird Su Hong die zugige, teils geflutete Bauruine durchstreifen. In ihrem rüschenbesäumten Rock und den Schlappen wirkt sie dabei selbst wie ein kleines Tierchen, das nur unzureichend an seine Lebensbedingungen angepasst ist. Vielleicht fühlt sich Han Jiangyu auch deshalb so zu ihr hingezogen. In der Wohnung seines Vaters kümmert er sich liebevoll um einen Wurf neugeborener Kätzchen, deren klägliches Miauen manchmal seinen eigenen stummen Gefühlen Ausdruck zu verleihen scheint. Später streichelt er durch einen vergitterten Transporter hindurch ein paar Ziegen, woraufhin der Fahrer ihn auffordert, die Tiere zu kaufen. Da liegt das zentrale Problem in Absence: Die Figuren sehnen sich nach nichts weiter als grundlegenden Werten, nur dass der Tigerkapitalismus diese in Waren umgewidmet hat: Zuneigung, Wärme, Geborgenheit, ein Heim.

Mit sicherem Gespür für Komposition, Licht und Schattensetzung findet Wu Lang beeindruckende Bilder für sein Anliegen – man merkt, dass er Bildhauerei studierte, bevor er zum Film kam. Der eingangs erwähnte Hummer gehört schon jetzt zu einem der tragischeren Leinwandtode dieses Berlinale-Jahrgangs. Die Schatten vorbeilaufender Ziegen malen alptraumhafte Silhouetten an eine Betonwand und ein 3D-Rendering des geplanten Neubaugebiets steht im krassen Kontrast zum verlassenen Rohbau. Es hat beinahe etwas Tröstliches, dass am Ende die Tiere dort wieder Einzug halten. Kaulquappen warten im unter Wasser gesetzten Erdgeschoss auf ihr Heranwachsen, eine Ente findet Schutz vor Wind und Wetter. Letzten Endes sind die Tiere vielleicht doch die besseren Menschen. Zumindest sind sie uns überlegene Meister der Anpassung.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/absence-2023