Die letzte Nacht in Mailand (2023)

C'era una volta un poliziotto (Es war einmal ein Polizist)

Eine Filmkritik von Moritz Henze-Jurisch

In den 1970er Jahren gab es in Italien eine regelrechte Welle an Polizei- und Gangsterfilmen. Ähnlich wie der Italowestern wurden diese Action-Thriller massenhaft produziert, konnten aber nie dessen Popularität oder filmhistorische Bedeutung erreichen. Dabei brachte dieses Subgenre, welches häufig als „Poliziottesco“ bezeichnet wird, einige herausragende Filme wie „Das Syndikat” (1972) von Stefano Vanzina oder „Milano Kaliber 9” von Fernando Di Leo (1972) hervor. Inhaltlich beschäftigten sich die Filme häufig mit der Verwebung der italienischen Politik und der Mafia sowie mit der Korruption des Polizeiapparats. Mit „Last Night of Amore” hat Andrea Di Stefano nun eine Hommage an den Poliziottesco gedreht, die man aber gleichermaßen auch als gelungene Modernisierung betrachten kann.

Nur noch eine einzige Nacht trennt den Mailänder Polizisten Franco Amore (Pierfrancesco Favino) von seiner frühzeitigen Pensionierung. In seinen 35 Jahren Dienstzeit hat er kein einziges Mal auf einen Menschen geschossen. Er ist ein friedfertiger Mensch, der in seiner freien Zeit gerne Gedichte verfasst. Ausgerechnet während seiner Abschiedsfeier, die seine Ehefrau Viviana (Linda Caridi) für ihn organisiert hat, erhält Amore einen folgenschweren Anruf, der sein gesamtes Leben außer Kontrolle bringt. Amores langjähriger Partner Dino (Francesco Di Leva) wurde ermordet und war offenbar kurz zuvor in ein illegales Diamantengeschäft verwickelt. 

Zugegebenermaßen wird die Handlung von Last Night of Amore keinen Innovationspreis gewinnen. Auch der Drehbuchtrick, in einer sehr langen Rückblende zu erzählen, wie es zu den dramatischen Ereignissen kam, ist mittlerweile nicht mehr besonders neu. Er ermöglicht aber, die Protagonist*innen ein zweites Mal und von einer anderen Seite kennenzulernen. So ist Franco Amore an seiner misslichen Lage vielleicht doch nicht so unschuldig wie anfangs angenommen. Pierfrancesco Favino spielt diese ambivalente Figur entgegen aller möglichen Cop-Klischees und gibt ihr dadurch eine erstaunliche Tiefe. Er ist kein knallharter Superbulle, sondern eine regelrecht naive Figur, die eigentlich immer nur das Richtige tun möchte, wegen einer einzigen falschen Entscheidung nun aber kurz davor ist, alles zu verlieren. 

Als perfekte Ergänzung agiert dabei seine Frau Viviana, die ihm immer wieder vor Augen führt, dass er nunmal manchmal auch schwierige Entscheidungen treffen und Kompromisse eingehen muss. Das Zusammenspiel der beiden Figuren gibt dem zunehmend komplizierter werdenden Plots des Films eine wunderbare menschliche Erdung und sorgt vor allem auch dafür, dass man als Publikum völlig auf ihrer Seite ist und sich ein Happy-End wünscht, auch wenn dieses mit fortschreitender Laufzeit immer unwahrscheinlicher wirkt.

Regisseur Andrea Di Stefano versteht es dabei perfekt, die ansteigende Panik in Amore durch seine Inszenierung auf die Zuschauenden zu übertragen. Dies fängt schon beim treibenden Score an, der wirklich so klingt, als hätte man den alten Poliziottesco-Soundtracks des Komponisten Stelvio Cipriani einen zeitgemäßen Remix verpasst. Seinen Spannungshöhepunkt erreicht der Film dann in seiner zweiten Hälfte, wenn er alle etablierten und Parteien am Tatort zusammentreffen lässt und von dort an fast ausschließlich an dieser Location spielt. Was nach einem biederen Kammerspiel klingen mag, wird durch die Inszenierung zu einem Meisterstück filmischer Erzählkunst, in dem Di Stefano die limitierte Räumlichkeit perfekt nutzt. So muss Franco Amore den Unwissenden spielen, aber gleichzeitig ausschließlich über Telefongespräche eine Ausweg aus seiner immer brenzligeren Situation finden.

Wenn der Film an diesem Höhepunkt ankommt, erreicht er endgültig das Stresslevel von Der Schwarze Diamant (2019), mit dem er sich inhaltlich das Thema Diamanten und optisch seinen grobkörnigen Kamera-Look teilt. Letzteres erinnert auch wieder an die alten Poliziottesco. Die komplexe Beleuchtung sowie die ziemlich aufwendigen Kamerafahrten sorgen aber dafür, dass der Film sich nicht nach Retromanie anfühlt, sondern vielmehr nach technisch perfekt inszeniertem Spannungskino. 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-letzte-nacht-in-mailand-2023