Seneca (2023)

Toll trieben es die alten Römer

Eine Filmkritik von Simon Hauck

"Non vitae sed scholae discimus." - "Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir." Senecas vielleicht berühmtestes Zitat ist auch 2000 Jahre später immer noch aktuell. Der römische Philosoph und Naturforscher ging als brillanter Rhetor in die Geschichtsbücher ein, der obendrein zahlreiche Ziehsöhne um sich scharte. Der nicht minder legendenumrankte Kaiser Nero war nur einer von ihnen. Dass man aus der Historie lernen könne - heute ein diskursiver Gemeinplatz-, geht ebenfalls auf den bekannten Stoiker zurück. 

Von all diesen bildungsbürgerlichen Weisheiten ist in Robert Schwentkes Seneca-Version, Seneca – Oder: Über die Geburt von Erdbeben, keinesfalls etwas zu hören. Und trotzdem bringt gerade ein anderes Diktum Senecas („Den größten Reichtum hat, wer arm an Begierden ist.“) all die Paradoxien in und um diesen extraordinären Blödsinn unfreiwillig auf den Punkt. Denn zu sehen gibt es hier viel, überbordend viel (Kostüm: Anne Wübber; Set-Design: Alwara Thaler) sogar: zumindest in der ersten Stunde, wenn gestandene deutsche Theatergrößen wie Lilith Stangenberg, Samuel Finzi oder Wolfram Koch in abenteuerlich-bizarren Fantasiekostümen stecken. 

Bereits in diesem überlangen Auftakt will der Schöpfer jenes irrsinnig-grotesken Totentanzes über die letzten Stunden des antiken Superbrains wirklich in jeder einzelnen Sequenz von allem zu viel; wodurch er genau das Gegenteil von filmästhetischem Reichtum erzeugt und gerade in der zweiten Hälfte dieses absolut ungewöhnlichen Diskursfilms zunehmend zu nerven beginnt. 

Dabei stimmten doch im Grunde die Produktionskoordinaten sowohl vor (immerhin das Theaterviech John Malkovich als Seneca!) wie hinter der Kamera. Obendrein konnte Robert Schwentke (Der Hauptmann, Flightplan, Tattoo), der stets für Überraschungen gut und in Europa ebenso wie in Hollywood zu Hause ist, Gaspar Noés Stammkameramann Benoît Debie (Vortex, Spring Breakers, Lost River) für diese schwarzhumorig-überdrehte Geschichtsstunde der Monty Python'schen Art gewinnen. 

In Schwentkes gallig-obszöner Lesart, die die ultimativen 24 Stunden Senecas umreißt und die als satirische Pasolini-meets-Schlingensief-meets-Greenaway-Hommage im Nirgendwo der marokkanischen Wüste beginnt, hebt er vor allem seinen ohne und Punkt und Komma sprechenden Hauptdarsteller von Minute zu Minute ins Zentrum des absurden Geschehens. Daneben rockt im ersten Teil das zunehmend wahnsinniger werdende Babyface-Kaiserchen Nero (Tom Xander) als „Mr. President“ mit aufblasbarer Plastikkrone und E-Gitarre durch sein perverses Neverland, in dem selbstverständlich ausgiebig gefoltert, gefickt und gefressen wird, ehe er seines Lehrmeisters überdrüssig ist und Seneca zum Selbstmord zwingt. 

John Malkovich wiederum verkörpert diese historische Figur, die in realitas zu den reichsten Männern Roms zählte, als offen janusköpfigen Charakter. Einmal ist er wortgewandter Opportunist, dann wieder dampfplaudernder Filou. Im nächsten Moment gebiert er sich zum romantisierenden Frauenversteher und danach wieder zum scharfzüngigen Dummschwätzer, der wörtlich um Leib und Leben redet, bis er vor seinem Schicksal nicht mehr davonlaufen kann. 

Das soll in der Summe wohl very sophisticated wie politisch inkorrekt sein, sorgt aber durch zahlreiche Überlängen bis zum erlösenden Finale en gros nur für intellektuelle Kopfschmerzen und krasse Ermüdungserscheinungen im Kinosessel. Ist das noch Film oder schon Performance-Kunst? Eine zumindest im Subtext politisch konnotierte Hanswurstiade oder schlichtweg eine persönliche Tour de Force, die nur für Mr. Malkovich geschrieben wurde? Zweifellos von allem etwas, nur eben nichts Ganzes, geschweige denn etwas wirklich Erhellendes. Oder um es in den Worten Geraldine Chaplins (als Lucia) ausdrücken: „I hope it doesn’t get political again.“

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/seneca-2023