Missing (2023)

Let’s go… missing

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Es gehört zu den Herausforderungen des aktuellen Kinos, unsere digitalen Kommunikationswege in eine ansprechende filmische Form zu bringen. In „Personal Shopper“ (2016) von Olivier Assayas wird der uns allen wohlbekannte Vorgang des Hin-und-her-Schreibens auf dem Mobiltelefon während einer Zugfahrt zu einem unfassbar intensiven Wechsel zwischen Aufnahmen des Displays und des Gesichts der Protagonistin, bei dem etwa die sich bewegenden Punkte, die uns wissen lassen, dass das Gegenüber etwas schreibt, oder der Ton, der über den Empfang einer neuen Nachricht informiert, zu effektiven Mitteln der Spannungserzeugung werden.

Social-Media-Schocker wie Levan Gabriadzes Unknown User (2014) und Simon Verhoevens Unfriend (2016) sowie die moderne Fenster-zum-Hof-Variante Open Windows (2014) von Nacho Vigalondo machen auf ästhetischer Ebene die Reizüberflutung spürbar, mit der sich die Figuren (und auch wir in unserem Berufs- und Privatleben) konfrontiert sehen, und entwickeln daraus einen Grusel-Plot. Am eindrücklichsten wurde diese Kombination aus Genre-Motiven und unserem digitalen Alltag bisher im Mystery-Thriller Searching (2018) von Aneesh Chaganty umgesetzt, dessen gesamte Handlung (wie auch bei einigen der bereits genannten Beispiele) über Desktop- und iPhone-Bildschirme erzählt wird.

Die Montage dieses Werks lag in den Händen von Nicholas D. Johnson und Will Merrick, die nun mit missing ihr gemeinsames Langfilm-Regiedebüt vorlegen und auch zusammen das Drehbuch geschrieben haben, während Chaganty und dessen Searching-Co-Autor hierfür die Story lieferten.

Im Zentrum steht die 18-jährige June (Storm Reid), die in ihrer Kindheit ihren Vater verloren hat und mit ihrer Mutter Grace (Nia Long) in Kalifornien wohnt. Als diese mit ihrem neuen Freund Kevin (Ken Leung), den sie online kennengelernt hat, in den Urlaub nach Kolumbien fliegt, kehrt sie nicht wie vereinbart zurück. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Veena (Megan Suri) und Heather (Amy Landecker), einer Bekannten von Grace, begibt sich June im Netz auf Spurensuche. Während die US-Polizei zunächst kaum eine Hilfe ist, erhält die Jugendliche Unterstützung von dem älteren Einheimischen Javi (Joaquim De Almeida), den sie über ein Dienstleistungsportal mobilisieren kann.

Noch bevor die Thriller-Elemente einsetzen, überzeugt missing durch die Art und Weise, wie Junes Interaktion auf dem Bildschirm erfasst wird. Wir hören die von ihr ausgewählte Musik, wir schauen TikTok-Videos, wir sehen ihre diversen Social-Media-Profile, wir lesen bei ihren Chats mit, die in mehreren Tabs geöffnet sind, und wir sind bei kurzen Facetime-Konversationen dabei. Witzig ist auch die Idee, dass June nebenbei ein ziemlich reißerisches True-Crime-Format streamt. Später werden Online-Dienste wie ein digitaler Kalender, der Google-Übersetzer oder Google Street View clever und glaubhaft eingesetzt, um Standardsituationen des Genres interessant zu variieren beziehungsweise ins Hier und Jetzt zu bringen.

Junes Versuche, als Laiin Passwörter zu knacken, um Zugang auf E-Mail-Konten oder Dating-App-Accounts zu erhalten und so an wichtige Informationen zu gelangen, sind nicht weniger aufregend in Szene gesetzt als klassische Detektivarbeit im analogen Bereich. Die sorgfältige Zeichnung der Figuren und von deren Beziehungen zueinander sowie das innige Spiel von Storm Reid tragen dazu bei, dass wir bei Junes Suche stets mitfiebern. Ein Twist im letzten Drittel, dem schon einige überraschende Wendungen vorausgehen, entfaltet dadurch die nötige emotionale Wirkung, um aus missing ein einnehmendes, unterhaltsames Stück Spannungskino zu machen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/missing-2023