Kalle Kosmonaut (2022)

Ein Leben von 10 bis 20

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

„Ich weiß nicht, wie’s angefangen hat, die ganze Geschichte mit mir…“, heißt es relativ zu Beginn des Langzeit-Dokumentarfilms „Kalle Kosmonaut“ von Tine Kugler und Günther Kurth. Der Teenager Pascal, genannt Kalle, denkt hier über sein bisheriges Leben und dessen Verlauf nach – und wir werfen mit dem Regieduo einen Blick zurück zu den Anfängen dieses ambitionierten Projekts, das aus einem Porträt über sogenannte Schlüsselkinder hervorging.

2011 lernten Kugler und Kurth den damals zehnjährigen Kalle kennen. Der Spitzname rekurriert auf die Allee der Kosmonauten. In einer Wohnung an der Hauptverkehrsstraße im Ostberliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf wuchs Kalle mit seiner alleinerziehenden Mutter auf. Er erweist sich vor der Kamera als ziemlich reflektierter junger Mensch. Die Hauptsache sei, man habe Essen, Trinken, Anziehsachen und ein paar Spielsachen, meint Kalle, als ihn das Filmteam durch den Alltag begleitet. Wir sehen ihn bei der Haushaltsmüllentsorgung, mit Freunden im Park, beim Armdrücken.

„Wir wussten nicht, wohin die Reise geht“, erklären Kugler und Kurth in einer Director’s Note und vergleichen ihre Lage mit der von US-Regisseur Richard Linklater, der für seinen Film Boyhood zwischen 2002 und 2013 in fiktiver Form vom Erwachsenwerden eines anfangs sechsjährigen Jungen erzählte. In der Art und Weise, wie die beiden Kalle und dessen Umfeld einfangen, wird rasch deutlich, dass sie großes Vertrauen zu allen Beteiligten schaffen konnten. Es ist weder eine distanzierte noch eine voyeuristisch-aufdringliche Haltung, die das Werk einnimmt – sondern eine durch und durch einfühlsame.

Kalle Kosmonaut ist nicht zuletzt eine intensive Milieustudie. Er sei „mit der Straße gewachsen“, sei „ein Straßenjunge“, sagt Kalle an einer Stelle. Wir bewegen uns mit ihm durch den Kiez, verbringen Zeit mit anderen Familienmitgliedern sowie Leuten aus der Umgebung und erfahren dadurch einiges über Wende-Erlebnisse, über innere Kämpfe mit Sucht, über die oft schwierige Suche nach Arbeit – und vor allem über das Bestreben, ein gutes Leben aufzubauen, für sich und für andere.

Im Alter von 16 Jahren beging Kalle eine schwere Straftat und wurde wegen Körperverletzung zu einer mehrmonatigen Haftstrafe verurteilt. Dies hätte das gesamte Filmprojekt zum Einsturz bringen können. Eine Zeit lang konnten Kugler und Kurth nur durch Briefe in Kontakt mit ihrem Protagonisten bleiben. Um den Gefängnisaufenthalt (sowie einige weitere Momente) zu visualisieren, nutzt das Duo Animationen, die der deutsch-iranische Künstler Alireza Darvish gestaltet hat. Die Passagen fügen sich stimmig in das Gesamtbild ein.

Im Laufe von Kalle Kosmonaut durchstreifen wir viele Gemütszustände – da eine Dekade im Leben eines Menschen ebenso aus zahlreichen Höhen und Tiefen besteht. Jugendweihe, Hochzeiten und Feierlichkeiten, Probleme, Streit und Konflikte, Familienbande, Freundschaften und erste Liebe; der Film ist in seiner Darstellung von Kalles Welt äußerst facettenreich und steckt voller Erkenntnisse, ohne jemals in den Erklärmodus zu geraten oder Werturteile zu fällen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/kalle-kosmonaut-2022