Merkel - Macht der Freiheit (2022)

Wenn „das Mädchen“ zubeißt

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Kann das gutgehen? Ein Kino-Dokumentarfilm über Angela Merkel kaum ein Jahr nach ihrem Ausscheiden aus der Politik? Wird man da nicht wohlvertraute Bilder sehen und langweilige, von Kompromissformeln entleerte Statements hören? Erfreulicherweise nicht, denn die deutsche Regisseurin Eva Weber, die seit 1991 in London lebt, hat sich den Blick von außen bewahrt, während sie sich durch die überbordende Materialfülle von Archivausschnitten, Fotos und Interviews aus 30 Jahren wühlte. Sie nutzt ihre Neugier auf eine Frau als Kompass, die sie aus ihren Wurzeln, dem Aufwachsen in der ehemaligen DDR, zu verstehen sucht.

1990 und 1991 lockte Helmut Kohl, damaliger Kanzler des gerade wiedervereinigten Deutschlands, aus Proporzgründen zwei ostdeutsche Frauen in sein Kabinett – und damit in das Haifischbecken der testosterongeschwängerten, von „Wessis“ dominierten Politik: die Ärztin Sabine Bergmann-Pohl und die Wissenschaftlerin Angela Merkel. Eine überlebte, die andere nicht. Warum sich die spätere Kanzlerin nicht von großkotzigen Riesenmäulern fressen ließ, erklärt der Film natürlich nicht direkt – die Freiheit des Titels ist auch die Freiheit des Publikums. Aber er liefert dafür im Wesentlichen drei Anhaltspunkte.

Zum einen ergriff die in der Diktatur aufgewachsene Merkel, die das unpolitische Fach Physik studierte, um nicht dauernd lügen zu müssen, in der Mitte ihres Lebens die Chance zu einem Neuanfang. Mit dem Mauerfall waren die Dinge veränderbar geworden, der Weg ins Offene lockte. Zum zweiten begriff sie die neu gewonnene Freiheit als einen Wert, für den es sich zu kämpfen lohnte, sachlich und kompromissorientiert, aber beharrlicher als andere, denen die demokratischen Errungenschaften quasi in die Wiege gelegt wurden. Merkels beständiges Ringen um ein gleichberechtigtes Miteinander ohne „Basta“ oder Machtwort, ihr Abscheu vor Diktatoren, Populisten und Mauerbauern spinnt den roten Faden des einfühlsamen Porträts.

Drittens lernte die anfangs schüchtern auftretende, von Kohl „das Mädchen“ genannte Frau, wann sie trotz aller diplomatischen Freundlichkeit auch einmal zubeißen musste. In einer der berührendsten Passagen schneidet die Regisseurin zu einem eher unbekannten Interview mit Merkels Mutter Herlind Kasner. Die Mama erzählt dem verblüfften Publikum nicht nur, dass ihre Tochter als Kind und Jugendliche extrovertiert und von großer Offenheit war. Sondern auch, dass sie niemals zurückschlug, wenn sie angegriffen wurde, sondern lieber wegrannte. Erst im Alter von 13, als sie ein Klassenkamerad im Unterricht ständig ärgerte, rutschte der jungen Angela die Hand aus. Sie gab dem Jungen eine Ohrfeige. Bravo, rief da sogar der Lehrer.

Natürlich fokussieren die Regisseurin und ihr bravouröser Schnittmeister Daniel Greenway nicht nur auf solche Anekdoten, obwohl ihr Film unterhaltsamer ist als man es von einem politischen Dokumentarfilm erwartet. Sie schälen aus dem Material den persönlichen Kern und das politische Anliegen einer Kanzlerin heraus, die sich oft zugeknöpft gab und wenig Einblicke in ihr Privatleben zuließ. Dabei springt der Film vor und zurück, erzählt aber im Wesentlichen chronologisch. Und zwar so, dass man den Eindruck gewinnen kann, als habe die Kanzlerin das Wort und erzähle die Geschichte aus ihrer Sicht.

Dadurch kommt man ihrer Person näher als in anderen Filmen über sie. Trotzdem artet der Film nicht in Selbstbeweihräucherung aus. Die wichtigsten, teils auch korrigierenden Aussagen kommen von anderen. Von Hillary Clinton etwa, vom britischen Ex-Premier Tony Blair oder von Ex-US-Außenministerin Condoleezza Rice sowie von deutschen Politikern und Journalisten. Die zahlreichen ausländischen Gesprächspartner sind übrigens auch dadurch motiviert, dass der Film neben dem einheimischen auch ein internationales Publikum ansprechen will.

Unterm Strich ist es erstaunlich, wie intim das Bild von Mensch und Politikerin geworden ist, obwohl die Regisseurin die Ex-Kanzlerin, die sich vorerst ins Private zurückgezogen hat, nicht persönlich kennenlernen durfte. Immer wieder sorgt der Film für anrührende Momente und Gänsehautgefühle, vielleicht auch deshalb, weil Eva Weber aus dem Material Beweise für Merkels trockenen und gut getimten Humor herauspickt, den man angeblich sonst nur in Kamingesprächen kennenlernt.

Aber auch den dunklen Schatten, den Russlands Überfall auf die Ukraine auf Merkels Kanzlerschaft warf, blendet der Film nicht aus. In einem im April 2022 geführten Gespräch nimmt Hillary Clinton, eigentlich eine Freundin der Deutschen, kein Blatt vor den Mund. Dass Putin Energie als Waffe benutze, sei seit langem klar gewesen. Jeder habe das wissen können. Aber Angela Merkel habe dank des billigen Gases lieber den Wohlstand der Deutschen vermehren wollen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/merkel-macht-der-freiheit-2022