Geographies of Solitude (2022)

Zwei Frauen und eine Insel

Eine Filmkritik von Teresa Vena

Von oben sieht die kleine Insel im Atlantischen Ozean, die zur kanadischen Provinz Nova Scotia gehört, wie eine Bohnenschote aus. Wirkt eigentlich harmlos, doch offenbar hat es dieser Landstrich in sich. Er ist bekannt dafür, insbesondere vor der Nutzung von Radarsystemen, viele Schiffsbrüche verursacht zu haben. Doch Sable Island ist nicht nur ein berühmter Schiffsfriedhof, sondern auch Habitat verschiedener einzigartiger Tierarten, unter anderem der halbwilden Sable Island Ponys, einigen Robben und von vielen Hundert Vögeln. Die Insel ist Naturschutzgebiet. Auch hier sind über die letzten Jahrzehnte viele Veränderungen durch Klimawandel und Umweltverschmutzung sichtbar geworden.

Eine Person, die diese von Nahem beobachtet, ist Zoe Lucas. Als junge Kunststudentin besuchte sie in den 1970er Jahren das erste Mal die Insel und verliebte sich in sie. Seitdem lebt sie dort und dokumentiert ihren und den Alltag des Lebens auf Sable Island. Die kanadische Regisseurin Jacquelyn Mills besucht Lucas und fängt die Atmosphäre vor Ort auf sinnliche und unprätentiöse Weise ein. Geographies of Solitude weckt ähnliche Emotionen wie Ulrike Ottingers Chamissos Schatten. Auch Mills nimmt sich selbst weitgehend zurück, sie verzichtet auf melodramatische oder reißerischen Wendungen und rückt die Landschaft und das Ökosystem, das im Zentrum ihres Projektes steht, tatsächlich als Protagonist in den Vordergrund.

Dabei kombiniert Mills von ihr ausführlich vor Ort entstandene Aufnahmen mit älterem, bereits vorhandenem Archivmaterial. Letzteres besteht beispielsweise aus Ausschnitten von Reportagen, wie jene, in die der französische Forscher Jacques-Yves Cousteau 1981 die Insel besucht und auf Zoe Lucas trifft. In einer anrührenden Szene fragt Cousteau die damals junge Frau: „Sagen Sie mal, lieben Sie diese Insel?“. Lucas bejaht.

Dass visuell der Unterschied zwischen den frühen Aufnahmen und den neuen gar nicht so riesig ist, liegt daran, dass Mills sich für einen Dreh auf 16 mm entschieden hat. Das wirkt sich auf verschiedene Arten auf die Wahrnehmung von Geographies of Solitude aus. Zum einen unterstützt die matte Oberfläche die romantisch-melancholische Stimmung, die von der Insel ausgeht. Dadurch verstärkt sich zudem das Gefühl, dass die Zeit auf Sable Island stehen geblieben sei. Zum anderen ist die körnige Struktur des Bildes ein direkter Bezug zum Sand, der eines der Hauptelemente der Insel ist und nach dem diese entsprechend auch benannt ist.

Eine große Ruhe geht von den Aufnahmen aus. Eine Ruhe, die auch Lucas in sich trägt. Ihre Einsamkeit, die aus dem Titel des Films spricht, wirkt richtig, ist eher der Ausdruck einer Erfüllung. Dennoch ist es nicht ein verklärtes Bild, das Mills hier zeichnet. Sie verschweigt die Kehrseite des Lebens auf Sable Island nicht. Wind und Wetter sind nicht immer gnädig. Und die Insel macht auch nicht unbedingt den Eindruck, gänzlich wehrlos zu sein. Sicherlich hat es etwas Schmerzhaftes, wenn man sieht, wie viel Abfall sich hier regelmäßig einfindet. Doch Lucas' Sammlung aus buntem Plastik fasziniert auch ungemein. Ein Stück passt allerdings nicht hinein. Am Strand liegt ein riesiges Konstrukt an ineinander verschachtelten Plastikrohren. Lucas erzählt, dass diese Jahrzehnte alt sind. Sie vermutet, dass es mittlerweile bis auf den Meeresgrund reicht und längst eine Symbiose mit der Insel eingegangen ist. Wie ein gestrandeter Wal liegen die Rohre im Sand, auf den ersten Blick tot, aber Eingeweihte und Geduldige können kleinste Bewegungen, Veränderungen, daran beobachten.

Lucas ist so eine. Die Regisseurin fängt die Listen und Notizbücher ein, in die Lucas akribisch jede ihrer Beobachtungen festhält. Diese Zeilen und Ziffern fügen sich zu einer Art Biografie der Insel zusammen. Sie zeigen, dass Sable Island auch ein empfindsamer Organismus ist, den man sorgfältig behandeln muss, wenn man seinen Fortbestand bewahren will. Geographies of Solitude ist in diesem Zusammenhang ein Mahnmal für unseren Umgang mit der Natur und Landschaft, die uns umgibt. Gleichzeitig ist es die zärtliche Liebeserklärung an diesen Ort, erst der einen und dann der anderen Frau, denn unweigerlich verschmilzt auch Regisseurin Mills mit diesem Ort; ein unwirtliches, aber auch großzügiges Stück Land.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/geographies-of-solitude-2022