Piaffe (2022)

Von Farnen und Fantasien

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Alles beginnt mit zwei Messingkreisen. Dann richtet sich der Blick auf die Okulare eines aus der Zeit gefallenen Fernglases. Bereits jetzt springt einen der haptisch-sensuelle Aufforderungsmodus dieses außergewöhnlichen Langfilmdebüts förmlich an: Komm, trau dich! Schau durch (mich), Freundchen! Dann wird dir in den kommenden 90 Minuten buchstäblich das Hören und Sehen vergehen.

Bereits das visuelle Entree zu Ann Orens extravagantem Locarno-Beitrag Piaffe, der letztes Jahr auf dem Schweizer Traditionsfilmfestival für ebenso große Aufregung wie Verstörung sorgte, verschlägt einem in seiner krassen Manieriertheit nichts weniger als den Atem. Was folgt ist eine viszerales Abenteuer voller optischer Wundertüten und sensorischer Wucht, das es so tatsächlich noch nicht im deutschen Kino zu sehen gab.

Was infolge solistischer Gestaltungsmanöver, eines brillanten Raum- und Farbkonzepts sowie in puncto extravaganter Besetzungspolitik zeitweise an Peter Stricklands grotesk-komisches High-Art-meets-Subculture-Universum (Berberian Sound Studio/Duke of Burgundy/Flux Gourmet) erinnert, überrascht dann doch in der nächsten Szene ein weiteres Mal durch eine völlig eigenständige, audiovisuell aufgeladene Kunstsprache, die es in der Folge lustvoll zu decodieren gilt. Was so in seinem demonstrativen Unwirklichkeitswillen wiederum Assoziation zum mittleren Oeuvre Peter Greenaways (Ein Z & zwei Nullen/Verschwörung der Frauen) weckt und gerade im ersten Drittel jenes hybriden Installationsfilms für echtes Aufsehen sorgt.

Im Zentrum dieses teils schwer in Worte zu fassendem Filmmysteriums agieren drei höchst eigensinnige Protagonist*innen. Da ist zum einen die introvertierte-scheue Eva (Simone Bucio), die nach dem Nervenzusammenbruch ihrer androgynen Schwester Zara (Simon(e) Jaikiriuma Paetau) gerade ihr Glück als Geräuschemacherin für eine seltsame Imagefilmproduktion versucht. Dabei bemüht sie sich, im Sitzen, im Stehen und auf allen Vieren das Verhalten eines Dressurpferds in der titelgebenden Piaffe-Stellung nachzuahmen, womit sie in den ersten Anläufen kläglich scheitert.

Daneben beginnt sie eine transgressive und überdrehte SM-Affäre mit einem nicht minder seltsamen Fachbotaniker namens Novak (Sebastian Rudolph) aus dem Berliner Botanischen Garten, dem sie zusehends verfällt. Gleichzeitig wächst der geheimnisumwehten Schönheit mit den langen dunklen Haaren eines Tages, Achtung: nun grüßt Franz Kafka aus dem Jenseits, ein Schweif aus ihrem Steißbein.

Ausgestattet mit jener erotischen Wunderwaffe steigert sich auch ihr sexuelles Verlangen, das keine biologischen Geschlechter kennt und in dem sich ein neu entdecktes Faible für Farne weiter Bahn bricht. Spätestens hier sollte es niemandem mehr überraschen, dass die 1979 in Tel Aviv geborene Absolventin der New Yorker School of Visual Arts, die heute in Berlin lebt, mit den surrealen Kinofantasien David Lynchs und Luis Bunuels aufwuchs. Denn absolut nichts scheint in dieser filmischen Parallelwelt unmöglich zu sein.

Verbunden mit Ann Orens genresprengenden Leitthemen Sexualität und Transformation, Lust und Wahnsinn, wie man sie bereits aus ihrer aufsehenerregenden Kurzfilmetüde Passage (2020) kannte, entwickelt die Wahl-Berlinen auch in ihrem ersten langen Spielfilm zeitweise eine ungeheure Sogkraft der Tableaux Vivants (Bildgestaltung: Carlos Vasquez), dessen irrlichternd-bizarrem Zauber man sich trotz narrativer Schwächen schwerlich entziehen kann.

Verbunden mit jeder Menge phallischer Metaphorik, wie man sie auch aus dem Schaffen eines Matthew Barneys kennt, phantastischen Aufnahmen rätselhafter Farnegewächse, die bekanntermaßen Hermaphroditen sind, und enigmatischen Szenen in der Nervenheilanstalt wie Aufnahmen aus dem Berliner Technoclubtreiben, feiert Ann Oren in der Summe queeres Begehren und surrealistische Eskapaden in einem 16-mm-Body-Pleasure-Reigen, der nachhallt und dem Filmpionier Eadweard Muybridge seine Ehre erweist.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/piaffe-2022