Der kleine Nick erzählt vom Glück (2022)

Worauf warten wir noch?

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

Wo anfangen bei diesem Film? Vielleicht bei den Bildern, den Zeichnungen. Die sich anschmiegen an jene, die Jean-Jacques Sempé gezeichnet hat. Seine Linien, seine Figuren, seine Nasen (diese besonders), sein Paris. Denn damit beginnt die Geschichte, mit dieser Stadt, in Bildern wie von Sempé. Die Eingänge zur Métro. Ein Café. Über allem die weiße Gestalt von Sacré Cœur. Die Fassade des fulminanten Kino Rex. Das ist Frankreich, Paris in den 1950er Jahren, Sempé und René Goscinny laufen sich über den Weg, freunden sich an – und beginnen irgendwann, gemeinsam an den Geschichten von „Le petit Nicolas“ zu arbeiten, „Der kleine Nick“.

Dieser Nick erwacht dann in den Bildern zum Leben, auch als Gesprächspartner für Sempé und Goscinny, taucht in ihrem Leben auf, wenn sie jeweils allein an der Schreibmaschine sitzen oder am Zeichentisch stehen. Und beide erzählen dem kleinen Jungen Geschichten aus ihrem Leben, und immer wieder sickern dann einzelne Motive aus diesen Erfahrungen in die Figur dieses kleinen Jungen ein.

So mäandert Der kleine Nick erzählt vom Glück durch das Leben seiner, ja doch, gleich drei Hauptfiguren, und der deutsche Verleihtitel ist ein wenig Etikettenschwindel, weil man womöglich vor allem Geschichten vom kleinen Nick erwartet, und stattdessen so etwas bekommt wie eine kreative Erkundung von Leben und Freundschaft, von Autoren und Werk.

Im Originaltitel wird das noch deutlicher: Le petit Nicolas – Qu’est-ce qu’on attend pour être heureux? Eine Frage aus einem Lied von Ray Ventura, das im Film auch zu hören sein wird, „worauf warten wir noch damit, glücklich zu sein?“, darin heißt es: „Qu'est-ce qu'on attend pour faire la fête? / La route est prête / Le ciel est bleu“: Die Straße ist bereit, der Himmel ist blau.

Es geht also um die Freude in den kleinen Dingen, zu schätzen, was da ist: Aber so platt kommt das keineswegs daher. Dafür wird zu viel aus bewegten Zeiten berichtet: Goscinny von seinem Leben als jüdisches Kind in Argentinien, Sempé von seinem trinkenden, schlagenden Vater und dem Großvater, bei dem er einen sicheren Rückzugsort hatte.

Das alles taucht darin auf, kurze Einblicke in volle und komplexe Leben. Es geht jedoch keineswegs nur darum, wie die Biographien von Goscinny und Sempé sich bei Nick wiederfindet, ob Sempé dessen Schule wirklich an seine eigenen Erinnerungen aus Bordeaux anschmiegt: Dass hier kein allein faktenbasiertes Biopic zu sehen ist, das macht schon die Form des Trickfilms klar.

Die Zeichnungen aus der Welt des kleinen Nick fransen an den Rändern ins Weiße des Zeichenpapiers aus, während im Leben der beiden Künstler die Bilder sich bunt bis an die Ränder der Leinwand wagen; aber die Unterschiede sind manchmal kaum größer als das. Der Blick wechselt den Ort und die Ebenen zuweilen nur in einer Kamerabewegung, die Schule, die Orte, alles baut sich Strich für Strich auf: Biographie und Stories, alles ist gleichermaßen gemacht und geschaffen.

Nur wünschte man sich dann doch, der Film ließe sich wenigstens ein, zwei Male die Zeit, die Geschichten vom kleinen Nick wirklich wirken zu lassen. Anders als in den zunehmend grässlichen Realverfilmungen der letzten Jahre (zuletzt Der kleine Nick auf Schatzsuche), die den Fokus ihrer Geschichten aus unerfindlichen Gründen auf die Erwachsenen legten, sind die Episoden in Der kleine Nick erzählt vom Glück direkt aus Goscinnys kurzen Erzählungen entwickelt.

Der kleine Nick erzählt selbst (er ist ja auch Ich-Erzähler der Geschichten, was vor allem die französischen Hörbücher übrigens zu einem Hochgenuss macht, wenn man der Sprache mächtig ist), seine Freunde Alceste, Rufus, Clotaire, Eudes und Geoffroy treten auf, die angehimmelte Lehrerin das Klassenfoto auf dem Schulhof beginnt harmlos und endet natürlich im Chaos und einer Rauferei.

Wo im Buch jedoch eine Kleinigkeit nach der anderen den Fotografen in den Wahnsinn treibt, bis er, am Ende von sich immer weiter auftürmenden Ereignissen, einfach unverrichteter Dinge wieder verschwunden ist, wird im Film der Konflikt schnell, eigentlich zu schnell auf die Spitze getrieben. Dadurch geht auch in diesem Film mit seinem eigentlichen ruhigen Tempo das aus, was im Kern die Geschichten vom kleinen Nick so lebensnah, herzlich und beglückend macht: der ganz genaue, geduldige und natürlich witzig, etwas übertriebene Blick auf die Interaktion von Kindern untereinander.

Das ist schade, weil es der biographischen Hommage noch etwas Tiefe und Glück hätte geben können – wenn auch diese Haltung womöglich aus den Lebenserfahrungen der beiden Künstler entwickelt worden wäre. Weil aber der Film seinen eigentlich gemächlichen Rhythmus von Nick-Geschichten und Biographie unbedingt beibehalten will, wirken die Episoden um die Jungs dann unwillkürlich fast gehetzt.

Das zu bemängeln ist aber schon Jammern auf sehr hohem filmischem Niveau. Amandine Fredon und Benjamin Massoubre haben mit diesem Film (Goscinnys Tochter Anne hat zusammen mit Michel Fessler das Drehbuch geschrieben) einen bezaubernden Animationsfilm geschaffen, der Realität und Imagination verschränkt und zugleich viel über die Kunst des Geschichtenerzählens verrät. Indem der Zeichner Morris und der genialische Harvey Kurtzman vom MAD-Magazin ebenso auftauchen wie Marie-Edwige, um deren Gunst ein paar kleine Jungs in einem als Westernduell inszenierten Wettessen streiten.

„Chouette, non?“

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-kleine-nick-erzaehlt-vom-glueck-2022