Heimatkunde (2021)

„Keiner schafft das Werk allein – alle müssen Helfer sein!“

Eine Filmkritik von Anke Zeitz

33 Jahre liegt in Deutschland die Wende zurück, die das Ende eines Lands einläutete, in dem Menschen aufwuchsen, arbeiteten, zur Schule gingen. Und in dem Heranwachsende durch ein System sozialisiert wurden, das auf Linientreue und Konformität setzte. In seinem Dokumentarfilm „Heimatkunde“ unternimmt Christian Bäucker eine Reise zurück in seine Schulzeit und erkundet mit ehemaligen Schüler:innen und Lehrer:innen der Polytechnischen Oberschule in Bärenklau in der Niederlausitz einen Ort, der die Erinnerungen an ein Land, das es nicht mehr gibt, in sich trägt. Ein empathisch erzählter Film, fern von „Ostalgie“, über das Leben, Lernen und Lehren in der DDR.

Das Leben in der ehemaligen DDR wird immer wieder in Spiel- und Dokumentarfilmen aufgearbeitet. Unter Männern (von Markus Stein und Ringo Rösener), This Ain't California (von Marten Persiel), Striche ziehen (von Gerd Kroske) oder, ganz aktuell, Aelrun Goettes In einem Land, das es nicht mehr gibt, der die Lebensumstände in der ehemaligen DDR nicht per se verdammt, sondern mit empathischem, wertfreiem Blick auf die Geschichte schaut. Und auch Christian Bäucker gelingt mit Heimatkunde ein Film, der zwischen jener wertfreien Offenheit und kritischer Reflektion zu liegen scheint.

Das Setting des Films bildet die ehemalige Polytechnische Oberschule in Bärenklau. Seit 1997 ist das Gebäude ein „lost place“, der eine morbide Faszination ausübt und für den Filmemacher, selbst ehemaliger Schüler, das Thema persönlich macht. Als geisterhafte Kulisse inszenieren Bäucker und seine Kamerafrau Joanna Piechotta die Räume, in denen ehemalige Lehrer:innen und Schüler:innen von Damals erzählen. Zunächst ist die Stimmung unbeschwert. Bald schon aber erhält das Gesagte eine Schwere, wenn vom Lehrplan der „Heimatkunde“ im Rahmen des Deutschunterrichts erzählt wird. Von Klassenbüchern, in denen die Anwesenheit der Kinder ebenso vermerkt wurde wie die Parteizugehörigkeit der Eltern.

Schnell vermittelt sich der Kernauftrag des Lehrkörpers: Die Kinder sollten „auf Linie“ gebracht werden. Wer unauffällig war, war keine Bedrohung. Wer nicht mitmachen wollte, wurde ausgeschlossen. Die Schüler:innen erzählen vom Fahnenappell, von der Vereidigung als Pionier, von zu langen Kurfahrten, aus denen unter anderem Entfremdungsmomenten zwischen Kind und Eltern resultierten. Überhaupt beleuchtet der Film den Aspekt des Verhältnisses Eltern/Kind und lässt Schülerinnen wie Kathi, die als 6-Jährige über sechs Wochen allein verreiste, hinterfragen, wie es denn sein könne, dass eine Mutter mit blindem Vertrauen in das System ihr Kind einfach in die Hände der Schule gibt.

Emotional folgt man diesem Hinterfragen. Doch der Film macht nachvollziehbar, wie selbstverständlich die Schule sich zum primären Erziehungs-Kontrollorgan machte – mit Kindern als Faustpfand. Die Drehzeit von über drei Jahren vermittelt sich in der ausführlichen Recherche des historischen Bild- und Tonmaterials, welches in der Form von DEFA-Schul- und Propagandafilmen an die kahlen Wände projiziert wird, aber auch in der Offenheit der Protagonist:innen gegenüber dem Regisseur selbst.

Neben den Filmen spielt Bäucker den ehemaligen Lehrer:innen Tonbänder aus dem damaligen Unterricht vor. Tonbänder, die sie selbst eingesetzt haben. Für ihre Reaktion darauf bleibt die Kamera lange Zeit auf den Gesichtern. Man spürt, wie unangenehm es ihnen ist, damit konfrontiert zu werden. Einige versuchen zu entpolitisieren. Es ging ja „nur“ um Erziehung. Und hier und da fällt der Kommentar: „Ja und? Ist das falsch?“, wenn ein Gleichaltriger auf einer LP Zweitklässlern vordeklamiert: „Keiner schafft das Werk allein – alle müssen Helfer sein!“

Bäucker zeigt exzellentes Gespür für ein gutes Timing seiner Fragen, durch die sich der Unwohlfühlfaktor spürbar erhöht, unterstützt durch den Score, der sich als Mischung aus moderner Klassik und Free Jazz mit disharmonischen Klängen auf die wirklich trostlose Kulisse legt. Der größte Verdienst des Films ist es, dass er eine Einladung ausspricht, zu verstehen. Nicht das System der DDR, nicht seine kontrollierenden Maßnahmen. Sondern die Sozialisierung der Menschen, die dafür sorgte, dass sich viele durch die sich überstürzenden Ereignisse der Wende und das plötzliche und selbstverständliche Übermaß an Möglichkeiten „schlicht überfordert“ fühlten.

Immer wieder zeigt Heimatkunde die Dominanz des erzwungenen Kollektivs durch Schaubilder und Lehrbücher auf. Das WIR war ein MUSS und wurde zum Trauma, wie bei dem ehemaligen Schüler Tino, der bis heute Gruppenaktivitäten meidet. Und wenn sich bei einem Klassentreffen Ehemalige über die drastische Bestrafung eines Mitschülers unterhalten, wirken Einzelne wie ertappt, sich an etwas erinnern zu müssen, was sie in sich vergraben hatten. Im Gegenzug stellt die ehemalige Stellvertretende Direktorin fast trotzig fest: „Niemandem tut es leid, hier gearbeitet zu haben.“ Und eine andere kommentiert einen Auslandspropaganda-Film, in dem eine fast klinisch reine Plattenbausiedlung gezeigt wird, mit den Worten: „Guckt, wie’s zur DDR-Zeit hier aussah – ein Traum!“

Dass Bäucker in seinem Film auch diese knirschenden Momente zulässt, ist ein Gewinn, denn sie verweisen klug auf das Heute, auf die immer noch nachwirkende Diskrepanz zwischen dem, was dem Osten versprochen, und dem, was eingelöst wurde. Für Bäucker selbst war es klar (wie er in einem Interview im Rahmen des DOK.fest München 2021 sagte), dass ein solcher Film vor zehn Jahren noch nicht hätte gemacht werden können. Denn es braucht Zeit, bis Menschen ihre eigene Geschichte reflektieren können. Bis Erinnerungen hinterfragt, eingeordnet, differenziert werden. Als Kathi, die von sich als „Nostalgikerin“ spricht, sich gegen Ende des Films noch einmal konkret an ihre Kindheit in der DDR erinnert, an all das Schöne, was sie erlebt hat, da kommt sie zu einem Schluss, der vielleicht stellvertretend für viele Biografien steht: Ihre Kindheit war schön. Aber: „Das war die Kindheit. Nicht die DDR.“

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/heimatkunde-2021