Unruh (2022)

Zeit für Anarchismus

Eine Filmkritik von Simon Stockinger

Es fiele leicht, sich Filmplots über das bewegte Leben von Pyotr Kropotkin (1842-1921) auszumalen. Er war schließlich als politischer Aktivist in etliche Kämpfe seiner Zeit involviert und gilt zudem bis heute als Vordenker des kommunistischen Anarchismus, einem Gegenentwurf zum autoritären Staatsfetisch der Sowjets, der auf eine dezentrale Überwindung von Nation und Kapital durch Netzwerke von Arbeiterräten und freiwilligen Kommunen setzt. Unrueh, der zweite Langfilm von Cyril Schäublin nach seinem vielgelobten Debut Dene wos guet geit (2017), konzentriert sich lediglich auf einen frühen Ausschnitt dieses Lebens, lange vor Kropotkins wichtigen Werken und Taten.

Es ist Sommer 1872 und Kropotkin (Alexei Evstratov) erreicht das Schweizer Juratal als junger Kartograf. Er stößt dort nicht nur auf eine Uhrenmanufaktur, sondern auch eine äußerst belebte anarchistische Gewerkschaftsbewegung – die Juraföderation. Es ist eine Zeit des Aufbruchs: Internationale Vernetzung funktioniert via Telegrafenamt, Fotografie wird zu einer individuellen Dienstleistung, die sich auch Arbeiter*innen leisten können, die liberalen Pressegesetzte in der Schweiz erlauben der radikalen Arbeiter*innenbewegung eine relativ ungehinderte Verbreitung ihrer Ideen und ihres Aktivismus.

Die titelgebende „Unruh“ bezieht sich einerseits auf jenes Teil in der Armbanduhr, das die notwendige Schwingung ermöglicht; die junge Arbeiterin Josephine (Clara Gostynski) wird Kropotkin dies genauer erklären. Andererseits aber auch auf die Unruhe der frühen Moderne, die bis zum bersten geladen ist mit Widersprüchen: Während das Management der Fabrik über Reklameslogans sinniert und unverheiratete angestellte Frauen nicht versichert, sprechen die Arbeiter*innen ungezwungen etwa über die Pariser Kommune oder sie stimmen ab, ob ein gewisser Prozentsatz ihres Lohns für Anarchist*innen in Baltimore aufgebracht werden soll, wo es gerade heftige Repressionen gegen Genoss*innen gibt.

Unrueh lässt die Komplexität der Technik in einen Dialog mit jener des Politischen treten. Dabei wird kein Klischee – auch keine linke Wunschvorstellung – bedient. Vielmehr rebelliert der Film geradezu gegen die beruhigende ästhetische Funktion des Eingeschliffenen; kein Pathos, kein Sozialdrama, keine Überwältigung mit Effekten und keine emotionalisierende Einladung zur Identifikation. Unrueh stellt sich vielmehr quer zu der eingeübten – mal sozial-realistischen, mal dramatisch auf Heldenfiguren fixierten – Art, wie in Historien- und Kostümfilmen Geschichte vermittelt wird. Hier stehen Ambivalenz und Unentschiedenheit im Zentrum. Der Ton ist unaufgeregt, die Perspektive bleibt radikal dezentral; dies nicht nur in den vielen lichtdurchfluteten Totalen, wo die sprechenden Figuren nie im Zentrum stehen, sondern auch hinsichtlich des Plots, der es verweigert, Kropotkin zum Mittelpunkt zu machen und gerade damit dessen Theorie die Treue hält.

Die Montage der Unruh durch Arbeiter*innen ist freilich ein Bild für die kapitalistische Normierung von Zeitlichkeit. Aber im Jahr 1872 ist die Zeit noch nicht synchronisiert und es ist auch noch nicht klar, in welche Richtung diese anbrechende Moderne gehen könnte. Neben Beschleunigung und der Formierung einer zunehmend technisierten „Disziplinargesellschaft“ (Foucault), gibt es auch Hoffnung auf Emanzipation und Selbstbestimmung. Unrueh zeigt dieses Unentschiedene und verweigert dabei den retrospektiven Schluss, Geschichte folge irgendeinem fixen Bewegungsgesetz. So war die anarchistische Gewerkschaftsbewegung im Juratal, allen heutigen Klischees entgegen, technik-progressiv und wollte die Synchronisierung der Zeit im eigenen Interesse nutzen. Und apropos Klischee: Unrueh steht quasi en passant gegen jenen scheinbar unzerstörbaren Unsinn auf, wonach Anarchismus Chaos bedeute, sich also gegen politische Organisation stelle.

Das am Beginn des Films eingeblendete Zitat von Kropotkin endet so: „als ich die Berge nach einer guten Woche Aufenthalt bei den Uhrmachern wieder hinter mir ließ, standen meine sozialistischen Ansichten fest: Ich war ein Anarchist.“ Wenn wir den Film nach 93 Minuten verlassen, dann haben sich vermutlich keine Ansichten verhärtet, aber zumindest diese leise sinnliche Ahnung, dass auch alles ganz anders sein könnte, nimmt man mit. Und das ist vielleicht gar nicht so wenig.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/unruh-2022