Mariupolis 2 (2022)

Todesmutig, im bitteren Wortsinn

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Eigentlich glauben wir alles zu wissen über das sinnlose Morden und den tragischen Fall der ukrainischen Hafenstadt Mariupol. Zweieinhalb Monate sendeten die Nachrichtenkanäle fast täglich Bilder von den Zerstörungen und Interviews mit den (noch) Überlebenden. Aber wie lebt es sich wirklich in einer Stadt, in der der Tod in jedem Hausflur lauert, an jeder Straßenecke steht und in jedem Bett schläft? Der menschenwürdige Alltag trotz extremer Bedingungen interessierte den litauischen Regisseur Mantas Kvedaravičius schon in seinen früheren Filmen, nicht zuletzt bei seiner ersten Dokumentation über Mariupol aus dem Jahr 2016. Freunde, die er damals bei den Dreharbeiten kennengelernt hatte, riefen ihn nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine an und schilderten die fürchterlichen Zustände. Am Tag darauf beschloss er, in die eingekesselte Stadt zu reisen und dort zu drehen.

Eine Kirche, wie durch ein Wunder fast unversehrt inmitten zerbombter Häuser: Mit seiner Kamera sitzt Mantas Kvedaravičius im dunklen Flur und filmt durch die offene Tür hinaus in den sonnigen Tag. Es ist eine lange Einstellung. Mal kommen Leute rein, mal gehen andere hinaus, sonst passiert fast nichts. Das eigentlich Interessante ist die Tonspur. Ständig sind Detonationen zu hören, dumpfe Schläge und ein Grollen wie bei Gewitter. Solche Einstellungen gibt es immer wieder. Die Kamera schaut aus dem Fenster, blickt hinüber ins nicht allzu weit entfernte Stahlwerk, wo die heftigsten Kämpfe toben. Aber außer Rauchschwaden und manchmal einem Feuer ist wenig zu sehen. Aber es kracht und donnert in einem fort.

In genau so eine Lage sind die Menschen und der Filmemacher gedrängt, der hier bei den Schutzsuchenden in der Kirche lebt: passiv dazusitzen und wie das Kaninchen vor der Schlange darauf zu warten, endlich gefressen zu werden. Doch das Erstaunliche ist, dass die Bewohner von Mariupol das Kaninchendasein längst abgestreift haben. Sie holen sich ihr Leben zurück, kochen Essen auf einem riesigen, für Kantinen gedachten Kochtopf, den sie über ein offenes Feuer stellen. Sie fegen den Schutt um die Kirche weg und gewinnen dadurch ein Stück Kontrolle über ihre Notunterkunft zurück – und ein bisschen Würde.

Sie trotzen dem Tod, indem sie im Keller der Kirche Notbetten für etwa 40 Menschen aufstellen, eng gedrängt um einen großen Tisch, an dem sie gemeinsam essen und beten. „Wir danken dir Herr, für eine ruhige Nacht“, sagt der Pfarrer. Und dafür, dass sie den schrecklichen gestrigen Tag überlebt hätten. Es sind gefasste, pragmatische Alltagsszenen, ohne die Panik und die Verzweiflung, die man sich ausmalt, würde man selbst in eine solche Situation kommen. Nur einmal bricht ein Mann in Tränen aus, als er über den Tod seiner Frau spricht und wegen seiner Krankheit nicht weiß, wie er die kleine Tochter durchbringen soll. Es ist charakteristisch, wie Mantas Kvedaravičius das filmt. Nicht sensationsheischend wie die Fernsehkameras, sondern aus großer Entfernung und im Halbdunkel. Das Gesicht des Mannes ist gar nicht zu erkennen, so groß ist der Respekt vor fremdem Leid.

Man muss nicht betonen, wie mutig der Regisseur war, als er praktische Solidarität übte, indem er sich direkt unter die Bedrohten begab. Aber man darf natürlich nicht verschweigen, dass er dabei sein Leben verlor. Über seinen Tod gibt es verschiedene Versionen. Seine Verlobte und Assistentin Hanna Bilobrova sagt, der Dreh sei bereits abgeschlossen gewesen, aber er sei noch einmal zurückgegangen, um den Eingeschlossenen bei der Flucht aus der Stadt zu helfen. Auf der Fahrt sei die Gruppe von russischen Soldaten angehalten worden. Sie hätten Mantas kaltblütig erschossen und die anderen laufen gelassen.

Somit ist Mariupolis 2 auch der Film von Hanna Bilobrova und der Schnittmeisterin Dounia Sichov. Sie haben aus dem Rohmaterial eine Dokumentation im Stile des Regisseurs geformt. Wie nah sie dessen Intentionen gekommen sind, zeigt ein Vergleich mit dem früheren Mariupolis (2016). Hier wie dort dominieren lange Einstellungen, zeigt sich das Interesse an der Würde der in Not geratenen, herrscht ein zärtlicher Humanismus. Aber natürlich kann dies nicht der Film sein, den Mantas Kvedaravičius selbst fertiggestellt hätte. Er ist eher ein Rohschnitt. Das hat Vor- und Nachteile. Der Vorteil ist eine noch größere Nähe zur Wirklichkeit, als sie der Regisseur sowieso schon pflegt, mit seinem Verzicht auf einordnende Kommentare und seiner Nähe zum Konzept des Direct Cinema. Die Nachteile bestehen in fehlenden Verdichtungen, einem nicht vorhandenen Fokus auf einzelne Protagonisten, die zur Identifikation einladen, und einer kaum erkennbaren Dramaturgie.

Es ist verständlich und menschlich, solche Zustände wie in Mariupol während der Kämpfe lieber verdrängen zu wollen. Aber es gibt wegen der offenkundigen Gefahren kaum einen anderen Film, der die Solidarität der Menschen im Angesicht des Todes so eindringlich nahe bringt. Es ist ein abstrakter Spruch, wenn man Friedrich Hölderlin zitiert mit seiner Erkenntnis „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. Es mit Augen und Ohren sinnlich erfahren zu dürfen, wie Menschen zu einer „besseren Version ihrer selbst wurden“, wie es in den Notizen zu den Dreharbeiten heißt, ist etwas ganz anderes.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/mariupolis-2-2022