Im Westen nichts Neues (2022)

Was gibt es Neues im Westen?

Eine Filmkritik von Martin Seng

Über den Köpfen der Soldaten fliegen Granaten, Stacheldrähte sind in Blut getränkt, Leichen versinken im Schlamm, Bajonette verschwinden zwischen Fleisch und Knochen. Menschenleben siechen dahin. Es ist die Westfront 1917, Millionen Menschen sind bereits gestorben, ein Ende ist nicht in Sicht. Paul Bäumer (Felix Kammerer) ist einer von vielen Soldaten, das Gewehr an den Leib gepresst, den Kopf in Todesangst eingezogen. Sein Stahlhelm hat ihn bereits vor einem Kopfschuss bewahrt, andere nicht. Seine Freunde, mit denen er anfangs noch euphorisch an die Front zog, sind längst gestorben. In Zeiten des Stürmens und Gestürmtwerdens ist die Front laut, die Farben sind braun und rot, die Motive von Kratern und verformten Körpern dominieren die Leinwand. Doch jetzt, in der Stille der Nacht, sind die Bilder grau und schwarz gefärbt. Eine Leuchtfackel steigt in den Himmel und bringt einen goldenen Schimmer hinein in die matschigen Farben. Für einen Moment erhellt das Licht die Szenerie, die sich stumm vor Paul ausbreitet. Schützengräben und Leichenberge, die regungslos daliegen und nur darauf warten, sich noch weiter auszubreiten. Die Odyssee des jungen Soldaten wird mit einem vermeintlichen Waffenstillstand und dessen obligatorischem Bruch enden. Sein Tod ist nur einer von vielen, der keine Bedeutung hat. 

Regisseur Edward Berger sieht sich mit seiner Neuauflage des Filmklassikers Im Westen nichts Neues von 1930 der großen Herausforderung gegenüber, seiner Adaption eine Bedeutung zu geben. Eine Existenzberechtigung, warum es zum dritten Mal (schon 1979 gab es eine zweite Adaption fürs TV) einen solchen Film geben soll. Er setzt es sich zum Ziel, den ersten sogenannten Anti-Kriegsfilm der Geschichte in die Moderne zu verlegen – während der Krieg derselbe bleibt. Dafür muss der Regisseur nicht nur modernisieren, sondern auch beantworten. Es gilt, eine Antwort auf die Losung finden, was einen Kriegsfilm von einem Anti-Kriegsfilm unterscheidet, was die Substanz dieser Genregrenzen überhaupt auszeichnet. Dabei bewegt sich der Filmemacher auf einem schmalen Pfad, auf dem es nur wenige Fußspuren gibt. Und auch er hinterlässt keine tiefen Spuren.  

Das Problem mit der Adaption – bevor man sie überhaupt gesehen hat – ist der Zeitgeist, in der das Original entstand und an dem sich der Nachfolger unweigerlich messen muss. Man kann den heutigen Film nicht ohne den historischen Kontext und die Kontroversen betrachten, die von dem Erstling ausgehen. Im Westen nicht Neues gilt als der erste Film über einen Krieg, der sich explizit dagegen ausspricht. Der sich für den Pazifismus und den Dialog einsetzt, obwohl das Publikum in die Perspektive deutscher Soldaten versetzt wird. Die deutsche Seite wurde nicht verteufelt oder stigmatisiert, sondern humanisiert. Natürlich hat eine solche Empathie für Kritik gesorgt.

Doch bevor der Film erschien, veröffentliche Erich Maria Remarque Ende 1928 seine gleichnamige Romanvorlage. Sie erreichte in kürzester Zeit eine große Popularität. Das Kriegstrauma war in der deutschen Gesellschaft noch kaum verarbeitet, das Buch traf den verstörten Nerv der "shell-shocked" Generation. Remarques Buch war weniger nationalistisch als Ernst Jüngers literarisch verarbeitete Tagebucheinträge In Stahlgewittern, doch dem Krieg genauso kritisch gegenüber. Der Leser folgt dem jungen Soldaten Paul Bäumer und erlebt, wie er an der Front seine Kameraden und Kriegslust verliert. Daran orientiert sich sowohl die erste als auch die neuste Verfilmung, wenngleich sich beide nicht dogmatisch an die literarische Vorlage halten.

Nach Erscheinen des Buches sicherten sich die Universal Studios schnell die Filmrechte. Die US-amerikanische Verfilmung wurde 1930 trotz massiver Widerstände in deutschen Lichtspielhäusern gezeigt. Die Nationalsozialisten, denen die pazifistische Haltung des Buchs ohnehin schon ein Dorn im Auge war, protestierten nicht nur gegen die Aufführung, sie verhinderten sie mit körperlicher Gewalt. Die NSDAP organisierte Aufstände, ließ Stinkbomben und Mäuse in den Kinosälen los, um den Film einer breiten Maße zu verweigern. Ironisch, wenn man bedenkt, dass die Soldaten im Film von 1930 Mäuse und Ratten in den Erdbunkern totschlagen. In Edward Bergers Version kündigt die Flucht der Kleintiere die Ankunft der feindlichen Panzer an. Die vierbeinigen Tierchen transportieren eine Botschaft der Flucht. Eine erzwungene, wie sie die Nationalsozialisten herbeiführen, oder eine notwendige wie die der Soldaten, die vor den Stahlmaschinen davonrennen.

Während Im Westen nichts Neues in der Weimarer Republik teils verboten, teils zensiert und teils doch aufgeführt wurde, endete dies mit der Machtergreifung Hitlers. Der Film wurde endgültig verboten. Stattdessen waren es Propagandafilme wie Hitlerjunge Quex und S.A.-Mann Brand, die das deutsche Kino prägten, bis Leni Riefenstahl im Dezember mit Der Sieg des Glaubens eine neue Ära der nationalsozialistischen Filmästhetik einläutete. Und doch war die Verfilmung von Remarques Buch ein Erfolg. Nicht etwa weil sie zweimal den bedeutungslosen Goldjungen Oscar gewann, sondern weil der Film als wichtiges Teil eines großen Puzzles galt, einer kollektiven Verarbeitung des Kriegs. Eine Beschäftigung mit dem Geschehenen aus einer multiperspektivischen Sicht, die nicht direkt nach Feindbildern und Rollenverteilungen sucht.  

Während Remarque mit seinem Schaffen nur eine kleine, wenn auch bedeutsame Randnotiz in der Literatur darstellt, zählt die Verfilmung zu den wegweisenden Werken der Filmhistorie. Regisseur Lewis Milestone hat insofern einen Meilenstein geschaffen, dass er dem globalen Konflikt ein filmisches Bewusstsein gegeben hat. Sein Film beginnt mit einer Ausbildung der Soldaten, die sie kriechend im Schlamm und laufend in voller Montur zeigt. Ein sadistischer Ausbilder quält die Kadetten, wodurch sie noch enger zusammenrücken. Heute sind es bekannte, zu oft genutzte Narrative, die damals noch unverbraucht waren und die Filmwelt beeinflusst haben. Die Zweiteilung in Vorgeschichte und Ausbildung und deren Anwendung im Krieg findet sich in großen amerikanischen Kriegsfilmen wieder. Stanley Kubricks Full Metal Jacket, Steven Spielbergs Epos Band of Brothers und Michael Ciminos düsteres Vietnam-Drama Die durch die Hölle gehen. Zugleich hat Milestone den Krieg nicht nur geteilt, sondern ihm eine Bildsprache verliehen. Wie kein anderer Film zeigt er Gräben, Stacheldraht und Frontverläufe in zerstörter Form, was wiederum die filmischen Generationen nach ihm beeinflusst hat. Wenn ein Kirk Douglas durch die Laufgräben in Wege zum Ruhm stiefelt, dann sind diese sie nach den Vorbildern von Milestones Bildern angefertigt. Ihnen wohnt die gleiche Ästhetik inne, der gleiche Versuch, die Schlachtfelder dem Publikum näherzubringen.   

Die Geschehnisse in besagten Gräben waren für damalige Verhältnisse ungemein brutal. Im Westen nichts Neues war in seiner graphischen Darstellung von Gewalt ein Novum. Soldaten, die sich in eine Grube werfen, werden kurz darauf von einer Granatenexplosion erfasst. Das Publikum sieht abgetrennte Gliedmaßen und schwarz-weiß kontrastiertes Blut, Soldaten, die regungslos zu Boden fallen. Der erste, wenn auch simple Eindruck, den man in Bergers Film bekommt, ist der einer optischen Modernisierung. Die Gräueltaten sind noch blutiger, noch näher, noch realistischer als zuvor. Nun wird ein Soldat nicht mehr nur getötet, er wird in eine flüchtige, rote Blutwolke zersetzt. Das Entsetzen darüber, wie beiläufig ein Leben endet, hält nicht lange an, denn es muss Platz für neue, aber nicht weniger erschreckende Bilder geschaffen werden. Soldaten werden von den Ketten der Panzer überrollt, sie weinen und schreien, laufen entsetzt davon und werden von Maschinengewehrfeuer niedergemäht. Mit einer Schaufel erschlägt Paul einen Franzosen, und das Blut spritzt wild auf die Kameralinse.

Als Zuschauer gewinnt man den Eindruck, dass Paul nicht den Feind, sondern uns selbst erschlagen möchte. Er will keine Zeugen, keinen Voyeur, der seine Taten bezeugen kann. Und doch sind wir es, die seine Taten abwägen und moralisch beurteilen müssen, immer aus dem distanzierten Kinosessel oder von der gemütlichen Couch aus. Eine so unverschämte Forderung kann man nur mithilfe der Kunst stellen, eine Person würde man dafür rügen. Wir sollen das Handeln einer Figur bewerten, die wiederum von so vielem beeinflusst ist, dass nicht einmal sie es versteht. Paul, gerade einmal das Abitur in der Hand, ist euphorisiert für den Krieg, will für Flagge und Vaterland kämpfen und wird unweigerlich enttäuscht. Und wir, das urteilende Ensemble an Kritiker:innen, wissen, dass es so kommt und kämpfen ebenfalls mit der Enttäuschung. Es ist der obligatorische Verlauf, der uns mit einem solchen Film erwartet. Man kann den Leidensweg – oder die Entwicklung, wie man es auch benennen möchte – des Charakters Paul bereits abschätzen, bevor die ersten Minuten gelaufen sind. Kein Protagonist, kein Antagonist, nur eine Figur, der man folgt und beim Schießen über die Schulter schaut.  

Im Film von Milestone folgten wir noch einem größeren Kollektiv an Soldaten, nicht jede Handlung war auf Paul zugeschnitten. Berger reduziert nun seinen Film auf ihn, engt ihn zwischen Schützengräben und Panzern ein, bis er den letzten Kameraden verloren hat. Damit engt er auch Perspektiven und Schicksale ein. In der Theorie soll das wohl zu einer engeren Bindung an Paul führen, zu einem Mitgefühl dem verlorenen Jungen gegenüber, doch verkommt er so nur zu einem Statisten. Denn der Film stellt ihn als einen von vielen dar, der das zufällige Glück hat, nicht von einer Kugel erfasst zu werden. Das macht ihn nicht zu einem Sympathieträger und erst recht nicht zu einem Helden. Ist das letztendlich die Motivation von Bergers Film? Uns einen Charakter zu präsentieren, der in der kurzen Schnelllebigkeit des Krieges nur durch Fortuna Minen, Granaten und Bajonette vermeidet? Um die Willkür der Schlacht zu zeigen, die sich nicht um Hautfarbe, Geschlecht und Herkunft schert, sondern nur um die universelle Währung des Bluts?

Letzten Endes ist es eine Distanz, die man zu Paul Bäumer fühlt. Nicht zwingend aufgrund seiner deutschen Uniform, sondern vielmehr wegen seiner Taten. Zwar hat er die Sinnlosigkeit des Kampfes längst erkannt, freut sich über einen Waffenstillstand und seine Rückkehr, bis ein verzweifelter General (David Striesow) die Soldaten zu einem letzten Angriff zwingt. Des Generals Fanatismus gipfelt im Fatalismus und dem zwangsläufigen Tod seines Heeres. Das Bajonett, das Paul durchbohrt, ist dabei so belanglos wie die Person, die ihn damit ersticht. Das kurz darauf der Frieden verkündet wird, ist tragisch, hat aber zugleich etwas Triviales. Ein deutscher Soldat, den Paul in einer vorherigen Szene noch gerettet hat, nimmt die Erkennungsmarke des Toten an sich. Es ist, als ob wir Pauls Weg grundlos verfolgt haben. Es gibt keine Katharsis, keine Heldenreise mit erfolgreicher Rückkehr. Und als Publikum wissen wir, dass über den Schlachtfeldern bereits die Unruhen eines weiteren Weltkrieges liegen. Das Ende von Bergers Im Westen nichts Neues ist also weit entfernt von einem versöhnlichen Ende. Letztendlich sind es die tragischen Geschichten, die in Erinnerung bleiben.  

Natürlich erwarten wir eine Kritik an Krieg und aggressivem Patriotismus, an den Auswirkungen von Nationalismus und dem Hass auf andere. Die bekamen bereits die Zuschauer:innen von 1930, nur dass für sie die Botschaft vergleichsweise neu und in dieser filmischen Form radikal war. Doch bekommen wir die gleiche Botschaft auch jetzt noch. Den Dialog der bewaffneten Auseinandersetzung vorzuziehen, ist keine veraltete Botschaft, im Gegenteil. Berger äußert sie, diesmal vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine; ein trauriger Aktualitätsbezug. Doch reicht es aus, eine Geschichte mit neuen Bildern zu bestücken und es ansonsten beim Alten zu belassen? Der aktuelle Im Westen nichts Neues bietet dem Publikum nichts, was die ursprüngliche Version nicht auch hat. Sieht man von Farbe und der Gewalt im Close-up einmal ab, ist es gleich, welchen Film man schaut. Aus historischer Sicht ist der erste Film bedeutsamer und hat in der Filmgeschichte tiefe Spuren hinterlassen. Dass Berger mit seiner Auflage in der Zukunft eine ähnliche Wirkung haben wird, ist unwahrscheinlich.  

Auch wenn Kriegsfilme ihre kritische Botschaft aus gegebenem Grund bis zum Überdruss wiederholen, bleibt ihre Essenz und Positionierung die gleiche. Krieg wird als das Negativ dargestellt, das es ist. Manche Filme malen mit patriotischen Farben, die zuweilen in Legitimierungen abgleiten. Doch inwiefern kann man nun den (seriösen) Kriegsfilm von einem Anti-Kriegsfilm unterscheiden? Warum darf sich ein Apocalypse Now zugleich als Kriegsfilm und doch Produkt gegen ihn schimpfen? Wenn amerikanische Streitkräfte ein vietnamesisches Dorf niederschießen, während Wagners Ritt der Walküren sie begleitet, verkommt es zur Persiflage. Die kriegerische Auseinandersetzung wird persifliert, satirisch verarbeitet und bis zur Unkenntlichkeit überhöht. Einen Aufruf zum Frieden enthält der Film dennoch, wie ein jeder Kriegsfilm, der abseits der Propaganda liegt. Das Boot ist zum Ende hin ebenso ein Plädoyer für den Pazifismus wie Kathryn Bigelows Tödliches Kommando – The Hurt Locker. Die Besatzung des U-Boots verliert ihr Leben, der US-Soldat kämpft mit PTBS und geht doch zurück in den Irak. Helden gibt es keine, und auch wenn Pazifismus nicht jedes Mal explizit als Lösung gilt, stellen sie sich doch alle gegen den Krieg. Ist es das, was sich Kriegsfilme und Anti-Versionen teilen? Eine Verarbeitung unterschiedlichster Konflikte, die immer mit der Erkenntnis der Sinnlosigkeit enden? Was haben wir als Publikum von einem Film, der sich die Darstellung von Sinnlosigkeit auf die Fahne schreibt? Im Falle eines Kriegsfilms nicht viel, außer der Gewalt. Auch dieser Film fühlt sich mehr nach einer Sinnsuche als nach jedem anderen Genre an. Einen Sinn bleibt der Film uns aber bis zuletzt schuldig, auch dann, wenn der Krieg beendet ist.  

Im Westen nichts Neues ist dasselbe und das gleiche – gleichzeitig. Ein identischer Krieg in ähnlicher Darstellung, in neuen Farben und mit dem alten Inhalt. Ein Inhalt, der so identisch ist wie der seiner Vorgänger. Ob nun dieser oder ein anderer Kriegsfilm, letztendlich wirken sie wie eine Aneinanderreihung von Pyrrhussiegen – einer noch bedeutungsloser als der andere. Ein paar Meter Landgewinn auf deutscher Seite, dann wieder der Verlust an die Franzosen und so weiter, bis es im November 1918 ein Ende hat. Mutige Interpretationen würde eine Korrelation zwischen Sinnlosigkeit des Films und der des Krieges sehen, andere Stimmen würden sie als zu gewagt abtun. Betrachtet man Bergers Film mit einer technischen Nüchternheit, dann ist sie als Produktion äußerst gelungen. Doch eine Modernisierung von Farben und Ton reicht nicht aus, um zu erklären, warum man sich erneut an Remarques Buch versucht. Die neue Verfilmung fügt der bereits bestehenden nichts hinzu und setzt keine neuen Impulse. Sie reminisziert einzelne Szenen, etwas Eigenes entsteht dabei aber nicht. Also nein, im Westen gibt es nichts Neues.  

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/im-westen-nichts-neues-2022