Die Aussprache (2022)

Bleiben oder gehen?

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Grausige Verbrechen aus der Realität bilden die Grundlage von Miriam Toews‘ Roman Die Aussprache: Zwischen 2005 und 2009 kam es in der erzkonservativen Mennonitengemeinde Manitoba Colony in Bolivien zu systematischen sexuellen Übergriffen. Einige Männer setzten zahlreiche Frauen ihrer Siedlung mit Tiernarkosemitteln außer Gefecht, um sich des Nachts ungestört an ihnen vergehen zu können. Erst 2011 standen mehrere Täter vor Gericht und wurden schließlich zu langen Freiheitsstrafen verurteilt. Auf Grundlage der literarischen Fiktionalisierung durch Toews erarbeitete die kanadische Filmemacherin Sarah Polley („Stories We Tell) ein Drehbuch, das sie mit einem gewaltigen Staraufgebot in Szene setzen konnte. Die Aussprache ist Schauspielkino in Reinkultur – der gediegen-biederen Art, wie manche Kritiker*innen dem Film vorwerfen. Allein: problemlos konsumieren lässt sich Polleys Adaption damit keineswegs. Die oft etwas bruchstückhafte Erzählung, die fast aller Farben beraubten Bilder und der kammerspielartige Diskussionscharakter – nicht umsonst lautet der Originaltitel „Women Talking“ – verhindern einen allzu leichten Zugang. Auf „Die Aussprache“ muss man sich einlassen, je länger das Drama dauert, umso mehr Kraft entfaltet es jedoch.

Ohne große Erklärungen, zeitliche Einordnung und voyeuristisch-explizite Impressionen werden wir mit der bedrückenden Situation in einer namenlos bleibenden Glaubensgemeinschaft mennonitischer Prägung konfrontiert. Die Frauen haben die sexuellen Gewaltakte bemerkt, und die Schuldigen werden verhaftet. Was nun? Vor dieser Frage steht der weibliche Teil der Kolonie, der eine geheime Abstimmung mit drei Wahlmöglichkeiten – nichts tun, bleiben und kämpfen oder das Weite suchen – durchführt, um zu einem Ergebnis zu gelangen. Da die beiden letzten Optionen die meisten und noch dazu genau gleich viele Befürworterinnen haben, zieht sich eine kleine Gruppe auf den Heuboden einer Scheune zurück, um Für und Wider abzuwägen. Festgehalten wird die hitzige Unterhaltung von Lehrer August Epp (Ben Whishaw), dem einzigen Mann, der etwas Raum bekommt. Über die anderen wird gesprochen. Präsent sind sie, wenn überhaupt, nur als unscharfe Umrisse, sieht man einmal von ein paar flüchtig auftauchenden Jungen ab.

Die Aussprache trägt zweifellos etwas theaterhaft-statische Züge. Manche Gedanken werden zu sehr in Form von Thesen ausformuliert. Eine Transgenderfigur (August Winter) wird in die Geschichte hineingepresst, ohne echte Entfaltungschancen zu erhalten. Und manche Plot-Elemente sind nicht vollauf glaubwürdig – so ist es etwas merkwürdig, dass nach der Verhaftung offenbar alle Männer bis auf August in die Stadt aufgebrochen sind, um die Kaution für die Täter zu beschaffen. Nur so können die Frauen ihre Haltungen und Pläne ausführlicher erörtern. Druck erzeugt allerdings die Ankündigung, dass die Vergewaltiger schon bald in der Gemeinde zurückerwartet werden.

Makellos ist Polleys Romanverfilmung nicht. Und doch hat sie einiges über Unterdrückung, Ausbeutung, Macht, Missbrauch von Glauben und Gewalt zu sagen. Keine neue Erkenntnis, deshalb aber nicht weniger erschütternd ist zum Beispiel die Art und Weise, wie die weiblichen Angehörigen durch das patriarchale System kleingehalten werden. Lesen und Schreiben lernen nur männliche Mitglieder. Nicht einmal den Ort, an dem ihre Siedlung liegt, können die Frauen benennen.

Wie tief die Indoktrinierung reicht, zeigt sich, als die schwangere Ona (Rooney Mara) laut darüber nachdenkt, ob ihre Peiniger letztlich nicht auch nur Opfer der althergebrachten Strukturen sein könnten. Was die Hermetik und Grausamkeit des Koloniealltags ebenfalls schmerzhaft offenlegt: Beim Sammeln von Argumenten für und gegen eine Flucht werden immer wieder eigentlich selbstverständliche Dinge angeführt. Die Protagonistinnen kennen kein anderes Leben und können sich daher nur schwer vorstellen, wie es sich anfühlt, wirklich frei zu sein. Ausdruck eines Systems, das individuelle weibliche Bedürfnisse und Gefühle nicht anerkennt, ist zudem der Verbalangriff Mariches (Jessie Buckley) auf ihre Glaubensschwester Mejal (Michelle McLeod). Ihr wirft sie vor, ständig Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu wollen und absichtlich mehr zu leiden als der Rest, obwohl sie alle das Gleiche durchstehen mussten. Dass jeder Mensch ganz unterschiedlich empfindet und traumatische Ereignisse anders verarbeitet, ist für die in einem so perfiden Unterdrückungsregime aufgewachsene Mariche schlicht nicht fassbar.  

Die Diskussionen über Kontrolle, Gewalt und das Vergeben sind natürlich nicht nur deshalb bewegend, weil Polley in ihrem Drehbuch viele Facetten beleuchtet. Auch die starken Darstellerinnen verleihen dem Film Gewicht. Erwähnen muss man hier auf jeden Fall Rooney Mara, die eine eher stille Form des Leidens verkörpert, Jessie Buckley, in deren Figur die schrecklichen Erfahrungen spürbar brodeln, und Claire Foy, die als Salome mit einer fulminanten, all ihre Verzweiflung kondensierenden Rede gegen Ende für Gänsehaut sorgt. Ebenso erstaunlich: Wenngleich sie nur eine kleine Rolle mit wenig Text bekleidet, hinterlässt die als Produzentin entscheidend an der Umsetzung mitbeteiligte Frances McDormand einen bleibenden Eindruck. Mit hartem, stoischem Gesichtsausdruck spielt sie eine Frau, die sich klar gegen den Aufbruch stellt, die am alten System festhalten will.

Hoffnungsschimmer – das darf nicht unterschlagen werden – blitzen schon früh auf. In Form begleitender Voice-over-Kommentare, die sich an das zum Zeitpunkt der Diskussionen noch ungeborene Baby Onas richten. Wie schön wäre es, wenn dieses Kind in einer Umgebung aufwachsen könnte, in der Fürsorge, Gleichstellung und echte Liebe gelebt werden.

 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-aussprache-2022