Piano Piano (2022)

Im Kaninchenbau der Pubertät

Eine Filmkritik von Sebastian Seidler

Neapel 1987. Ein Vorort soll durch eine Überführung an das Zentrum der Stadt angeschlossen werden. Allerdings stehen die Bauarbeiten dafür erst einmal still. Bevor es mit Aufbruch und Zukunft weitergehen kann, muss zunächst ein alter Wohnkomplex weichen, dessen Bewohner allerdings nicht gewillt sind, ihr Zuhause aufzugeben. Der Stadt und ihren Versprechungen ist nicht zu trauen.

In eben diesem Mikrokosmos aus Wohnungen, wuseligem Innenhof und Baracken lebt die 13-jährige Anna (Dominique Donnarumma) mit ihrer Mutter (Antonia Truppo) und versucht ihren Platz in dieser Welt zu finden. Die drohende Räumung ist nur eines der Probleme. Vor allem will sie erwachsen werden, ihre eigene Überführung finden. So spielt sie an ihrem Keyboard, das sie vom Rest der Bewohner unterscheidet, von denen sie nur die Prinzessin genannt wird. Ohnehin wirkt der gesamte Gebäudekomplex wie eine Burg, die von den Abgehängten, den Halbstarken und Kleinkriminellen bevölkert wird.

In diesem Durcheinander hat Anna ein Auge auf Peppino (Giuseppe Pirozzi) geworfen, einen Jungen in ihrem Alter, der in zwielichtige Machenschaften hineingezogen wird. Er soll sich um einen Fremden kümmern, der sich in einem Bretterverschlag hinter dem Haus versteckt hält. Diese mysteriöse Geschichte vermischt sich in diesem Coming-of-Age-Märchen mit pubertärer Energie, pochenden Herzen und ganz viel Musik.

Piano Pino ist ein bunter, ein expressiver Film hyperrealistischer Ernsthaftigkeit. Regisseur Nicola Prosatore lässt die Kamera fliegen, als würde sie einen fremden Planeten erkunden. Die Farben sind laut, die roten Haare von Anna fiebrig wie ihre Lippen. Das schüchterne und doch dringend pochende Begehren seiner jugendlichen Protagonisten lässt dieser Film die Leinwand erobern, ohne in einen süßlichen Kitsch abzurutschen. Piano Pinao behält sich genug Dunkelheit; der Sex ist nichts Unschuldiges, birgt auch Gefahren.

Wenn Anna sich herausputzt, wirkt sie mitunter wie eine Lolita und scheint für Momente gar mit dem Gedanken zu spielen, den mysteriösen Mann hinter dem Haus zu verführen. Prosatore schreckt nicht vor einer unangenehmen Ambivalenz zurück – eine Übergriffigkeit, die Verletzung und der Tod lauern hinter jedem Mauervorsprung. Und eben das gibt dem Film eine Ernsthaftigkeit, die jedes gute Märchen braucht, ohne gleich eine Moral der Geschichte aufzutischen. Dafür sprüht der Film vor zu viel Lust, die temperamentvolle Hitze in den stilisierten Bildern eines Tanzvideos aufgehen zu lassen.

Wenn das Mädchen durch ein Loch in der Wand, das obendrein vom Poster einer nackten Frau verdeckt wird, hinter das Haus steigt, fühlt man sich an Alice im Wunderland und den Kaninchenbau erinnert. Nur dass es hier frivoler zugeht. Ein wahrlich berauschender Film.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/piano-piano-2022