TÁR (2022)

Vom Hören und gehört werden

Eine Filmkritik von Melanie Hoffmann

Aufstieg und Fall der fiktiven Dirigentin Lydia Tár ist das Thema von Todd Fields lang erwartetem neuen Film. Nach 15 Jahren kreativer Pause kommt er mit diesem Psychothriller in der Klassikszene mit Paukenschlag zurück.

Lydia Tár (Cate Blanchett) ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere als Dirigentin. Sie übernimmt die Leitung der Berliner Philharmoniker und neben ihrer zeitintensiven Arbeit an einem Buch und einer neuen Aufzeichnung von Mahlers fünfter Symphonie ist sie der Liebling der Fachpresse. 

Doch verschiedene Schatten ihrer Vergangenheit drohen ans Licht zu kommen. Da ist die Aufzeichnung einer eskalierten Vorlesung, in der sie einen Studenten rassistisch beleidigt, die sie mühevoll versucht, aus der Öffentlichkeit zu halten. Und da ist die Cellistin Krista (Sylvia Flote), der sie womöglich die Karriere verbaut hat, die immer wieder in ihren Gedanken auftaucht und auch nicht davor zurückscheut, Mails an Lydias Assistentin Francesca (Noémie Merlant) zu schicken. Mysteriöse Zeichnungen, wie Krista sie einst zeichnete, tauchen an seltsamen Orten auf. Lydia sucht Halt bei ihrer Frau Sharon (Nina Hoss), doch Sharons Eifersucht auf eine neue Musikerin im Orchester ist stärker als jede ausweichende Entschuldigung von Lydia.

Lydia flieht in ihre Zweitwohnung, in der sie ungestört komponieren und arrangieren kann. Doch ihre inneren Dämonen kommen mit. Sie hört Geräusche, Stimmen, Piepstöne – alles lenkt sie ab, und so wird sie immer ungerechter zu ihrer Umwelt. 

Wie zuletzt in The Square wird auch in Tár genüsslich der elitäre Kunstbetrieb seziert. Wer kreativ Großes leistet, kommt schnell unter den Generalverdacht, exzentrisch zu sein. Lydia Tár lebt zwei Leben: Beruflich ist da das Leben der disziplinierten Dirigentin, die die gleiche Disziplin von allen Mitarbeitenden einfordert und auch mal flott eigenmächtig eine Umbesetzung im Orchester vornimmt, wenn ihr jemand nicht mehr nach dem Mund redet. Im Privaten lebt sie meist eine andere Seite aus, ist insbesondere zu Tochter Petra sehr zärtlich, behandelt ihre Frau Sharon aber mitunter so beiläufig, wie Karrieristen das eben tun. So kommen dem Filmfreund Parallelen zu Harvey Weinstein in den Sinn, dem Klassikliebhaber fällt die Causa James Levine von der MET ein.

Ein männlicher Protagonist hätte hier nur das Klischee bedient. Dass Regisseur Todd Field eine weibliche Hauptrolle erdacht hat, die sich rassistisch, sexistisch, regelrecht narzisstisch verhält, ist ein interessanter Twist. Durch die konsequente Erzählperspektive aus Lydias Sicht wird ein Band zwischen Künstlerin und Publikum geschaffen, wir identifizieren uns sehr lange mit ihr. Doch der Fall kommt schnell und heftig. Todd Field zwingt uns so, permanent unsere Sympathien für die Protagonistin zu hinterfragen. Auch über die Trennung von Künstler und Kunstwerk lässt der Film dadurch nachdenken.

Das rätselhafte Drama mit vielen Thriller-Elementen ist ein intensiver Essay über Macht und wie sie Menschen verändert mit Cate Blanchett in Bestform.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/tar-2022