Year of the Shark (2022)

Hai, verzieh dich!

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Als Steven Spielbergs „Der weiße Hai“ im Juni 1975 in die US-Kinos kam, war das die Geburt des Sommer-Blockbuster-Systems. Auf Basis des gleichnamigen Romans von Peter Benchley machte der Film den titelgebenden Knorpelfisch zur Projektionsfläche aller Ängste des Publikums. In der ersten Hälfte der Inszenierung benötigte der Hai dafür dank des genial-minimalistischen musikalischen Themas von John Williams nicht einmal eine Physis.

Das Werk Year of the Shark der französischen Zwillingsbrüder Ludovic und Zoran Boukherma (Jahrgang 1992) ist eine Mischung aus Hommage und Parodie. Das Drehbuch- und Regie-Duo, das bereits in seinem Vorgängerfilm Teddy (2020) die Genres Komödie, Drama und Horror verband, erzählt eine ähnliche Geschichte wie der moderne Klassiker, verlegt diese aber in die Jetztzeit und ins südwestliche Frankreich mit allen lokalen Besonderheiten dieser Region.

Statt in dem beschaulichen Urlaubsparadies Amity an der US-Ostküste löst hier ein gewaltiges Tier an den Stränden von La Pointe Panik aus. Und während in Der weiße Hai der neue Polizeichef seine Gattin und seine beiden Söhne zurücklassen musste, um mit einem jungen Meeresbiologen und einem grimmigen Hai-Jäger in See zu stechen und den gefährlichen Fisch in einem Abenteuer unter Männern zur Strecke zu bringen, fällt diese Aufgabe in Year of the Shark der gewissenhaften stellvertretenden Leiterin der Wasserschutzpolizei zu, die wenige Tage vor der Frührente steht, was sie sehr bedauert.

Zu den Stärken von Spielbergs Film zählte neben der Spannung vor allem die präzise Zeichnung der Kleinstadt und von deren Bewohner:innen – etwa des Bürgermeisters, der angesichts des gefräßigen Hais um die Einnahmen aus dem lukrativen Tourismusgeschäft bangt, oder der amüsierwilligen Strandbesucher:innen. Auch in La Pointe stößt die 49-jährige Maja Bordenave (Marina Foïs) auf reichlich Gegenwind, Hass und Häme durch ihre Vorgesetzten, Kolleg:innen und andere Leute aus dem Ort, als sie die Strände sperren lassen will. Ebenso ist ihr Ehemann Thierry (Kad Merad) überhaupt nicht erfreut, dass Maja sich so engagiert, statt den Ruhestand zu akzeptieren.

Der Mix aus diversen Tonlagen zwischen slapstickhafter Comedy, Gesellschaftskritik und blutigem Hai-Schrecken wirkt zuweilen etwas unausgegoren. Nicht jeder Gag zündet, nicht jede Message wird überzeugend vermittelt. Es gelingt den Boukherma-Brüdern jedoch, die sozialen Folgen der Coronazeit recht treffend einzufangen, beispielsweise den Unwillen der Menschen, Maßnahmen zur Sicherheit zu befolgen, oder die rasche Suche nach einer schuldigen Person, auf die sich alle negativen Gefühle projizieren lassen. „Hai, verzieh dich! Das ist unser Strand!“, ruft eine Gruppe von Protestierenden. Pointierter lässt sich die Absurdität der vergangenen Jahre vermutlich kaum einfangen.

Trotz des geringen Budgets konnte das Filmemacherduo nicht nur einige bekannte Gesichter des französischen Kinos wie Marina Foïs (In den besten Händen) und Kad Merad (Willkommen bei den Sch’tis) gewinnen; es liefert zudem in einigen Sequenzen auch effektiven Grusel – insbesondere wenn Maja gegen Ende mit einem kleinen Team auf nächtliche Jagd geht. In den Szenen mit dem Hai kommen keine CGI-Tricks zum Einsatz, sondern, ganz in der Tradition des Vorbilds aus den 1970er Jahren, eine mechanisch gesteuerte Attrappe, die wohldosiert Verwendung findet und deutlich macht: Dieser Hai denkt gar nicht daran, sich zu verziehen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/year-of-the-shark-2022