Mein Vater, sein Vater und ich

Mann-Heim

Eine Filmkritik von Simon Hauck

"Die Familie wohnt gleich über dem Paradies." Schon zu Beginn ein zartpoetischer Satz aus dem Off, der Jan Schmitts feinfühligen, zweiten Langfilm Mein Vater, sein Vater und ich charakterisiert. "Paradies" heißt nämlich auch die zentrale bürgerliche Gaststätte in diesem essayistischen Wunder von einem zeitgemäßen Dokumentarfilm, der um den Mannheimer Clan der "Schmitts" kreist. Unterlegt von anmutigen Schwarz-Weiß-Fotografien und im Wechsel aus historischen Dokumentar- und kurzen Spielszenen erkundet Jan Schmitt seine eigene Vater-Werdung aus dem Geiste der Mannheimer Geschichte: Vier Zimmer, Küche, Bad. Dazu zwei Balkone und ein Kemenatenzimmerchen für die Hausangestellte, die zugleich in der Wirtschaft unten als Bedienung arbeitet – und sich als käufliches Zimmermädchen ein paar Mark dazu verdient.
Ob sie das Kind je bekommen hat, weiß niemand. Darüber wurde nicht geredet zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zumindest nicht öffentlich. Dabei dominieren doch die komplexen Themenfelder Kind-Werdung, Erziehungseifer in wechselnden Politsystemen und nicht zuletzt die Frage danach, was denn den Mann zum Mann macht, das feingesponnene Koordinatennetz in Schmitts Film von Beginn an.

Gut so. Manche Geheimnisse nimmt man eben besser mit ins Grab. Einige davon hat sicherlich auch Wolfgang, der Vater des Regisseurs, niemals vor seinem Sohn ausgeplaudert: Bis zum Ende hin blieb er dem Filmemacher als Persona wie als Lebenslehrerfigur suspekt. Mit hochambivalenten Merksätzen aus der Zeit des Deutschen Kaiserreichs à la "Ein Indianer kennt keinen Schmerz" oder des NS-Terrorregimes "Flink wie Windhunde, zäh wie Leder" versuchte er es – ganz wie sein eigener Großvater zuvor schon bei ihm – auch bei dem kleinen Jan. Vergebens. Schließlich schlug der Sohnemann, Jahrgang 1967, als unabhängiger Filmemacher frech-frei einen ganz anderen Weg ein als der Herr Papa, der Mannheim als Ingenieur wiederaufbaute und in jeder politischen Ordnung in erster Linie als folgsamer Pragmatiker denn als liebevolle Vaterfigur hervorstach. Simultan zu seinem Großvater Hans Schmitt, der einst für Göring das berühmte Groehnhoff-Haus auf der Wasserkuppe an der Rhön gebaut hatte: "Reichssegelflugschule" wurde das gigantische Bauwerk schnell von den Bauleitern der braunen Parteiführung getauft. "Opfer müssen gebracht werden" steht heute noch in einer surreal anmutenden, bunt-leuchtenden "Ehrenhalle" auf dem schwarzen Grabstein eines anonymisierten, abgestürzten NS-Piloten. Erdacht und geplant von einem Mitglied der eigenen Familie: NSDAP-Parteiabzeichen seit 1933, ein Hundertprozentiger also. Derselbe Mann, der zuvor mit Hingabe das "Paradies" als Wirt geführt hatte, ehe er seine Frau verließ und sich den Braunhemden anschloss.

Nicht weniger als hundert deutsche Jahre werden in Jan Schmitts großartigem Mosaikfilm verhandelt, der in seinen besten Momenten an Dominik Grafs avantgardistisches Metropolen- (München – Geheimnisse einer Stadt) und Vater-Sohn-Projekt (Das Wispern im Berg der Dinge) heranreicht. Immer im Zentrum werden jene komplexen Fragen verhandelt: Wofür stand Männlichkeit früher? Welche Assoziationen weckt dieser Begriff heute? Nicht zuletzt: Welche Väter wollen wir in Zukunft haben? Und dabei nicht frei von Ironie ist: "Keiner weiß, wo er abgeblieben ist nach dem Krieg: Hans, der Überflieger."

Ein skrupelloser Opportunist war er, analog zu Vater Wolfgang: "Innerhalb von acht Tagen war er dann Architekt, der für die Franzosen gearbeitet hat" klärt der leise führende Off-Kommentar das persönliche Schicksal des Kriegsheimkehrers weiter auf. Souverän gesprochen von Großmime Thomas Thieme und Jung- wie Theaterstar Alexander Scheer, zwei weiteren Glanzlichtern dieses wirklich außergewöhnlichen Dokumentarfilmprojekts, das zum Großteil per Spenden und Crowdfunding, ergänzt durch Mittel des ZDF-Kreativitätsfonds auf eigene Faust des Regisseurs entstanden ist.

Daraus wurde ein echtes filmisches Unikum geboren: Immer wieder kontrastiert durch die selbstreflexiven Einschübe des Autorenfilmers Schmitt (Das Leben ist kein Ponyhof) sowie einige kluge und kontrastreiche Stadt- und Lebensgeschichten der Menschen in und um Mannheim, der historischen, zerstörten und wiedererrichteten Quadratestadt. "Wir waren die Aufbau-Generation – in jeder Hinsicht", bemerkt zum Beispiel der poetische Erzähler-Kommentar ebenso weise wie nachsichtig: Mann-Sein in Mann-Heim zwischen "Hitler war schuld"-Akklamation und "So habe ich zählen gelernt: Einhundert Bomber." Genau die waren am Himmel, als sich die Mannheimer Paradies-Idylle in einen zerstörerischen Feuertrichter verwandelte. Mit dem Resultat, dass über ein Drittel der Kinder in Deutschland nach 1945 ohne Väter aufwachsen musste.

Über Werden und Vergehen in Mannheim hätte Schmitts zweiter Teil seiner Familientrilogie nach Wenn einer von uns stirbt, gehe ich nach Paris (2007) alternativ auch heißen können. Denn Mein Vater, sein Vater und ich spielt überwiegend in der agilen Neckarmetropole. In einer sehr deutschen Stadt, die das Wort Mann bereits stolz im Namen trägt – und zudem seit Jahrhunderten für Technik, Aufbruch und Präzision steht. Doch genau in diesem Umfeld konnte der Kreativarbeiter Schmitt nie Fuß fassen: "Ich war da ganz anders", kommentiert der Filmemacher einmal so passend, als er von seinem Vater Wolfgang, dem Mechaniker-Fuchs, ausgerechnet ein Handwerksbuch geschenkt bekam. Von diesem war er gleich "tief getroffen" – und der Schenkende schmollte ein weiteres Mal verschlossen vor sich hin, anstatt den eigenen Filius tatsächlich kennenlernen zu wollen.

In diesem Muster hielt die misslungene Vater-Sohn-Beziehung lange an: Bis zu Wolfgangs Tod 1991 konnte der Regisseur keinen guten Kontakt mehr zu seinem Vater aufbauen. Altersdement und frisch verliebt wollte jener zu dieser Zeit noch einmal einen Neuanfang in Griechenland starten. Doch die Leitung war da längst irreversibel gekappt. Kein Lebensstrom zwischen den beiden, nirgends. Schon mit 14 Jahren hatte der Filmemacher begonnen, sich zusehends von seinem "Alten, dem Wolfgang" – wie er ihn früh forsch nannte – abzunabeln.

Im letzten Teil des Films versprüht Jan Schmitts raffinierte Familienstudie allerdings dann doch noch zunehmend Hoffnung, was auch daran liegen mag, dass der Autorenfilmer mittlerweile selbst Papa geworden: Janne heißt sein Sohnemann. Wie eine Shakespearesche Puck-Figur geistert dieser von David Rischin mit Engelshaar und in Messias-Weiß überzeugend verkörperte Über-Sohn mehrfach durch den Film des Vaters.

Gut so, denn Neue Männer braucht das Land! Das wusste schon Ina Deter – und zwar 1982. Wie das aussehen kann? Schmitt zeigt dafür symbolisch sieben verschiedene Männertypen der Gegenwart. Glücklich vereint am Süßigkeitenstand, die Söhnemänner im Schlepptau: Da steht der geschniegelte Brillen-Papa neben dem Karo-Hemd-Hipster, der Otto-Normal-Verbraucher parallel zum bärtigen Nerd-Daddy. Oder anders: Ein Sinnbild für Deutschland anno 2015 – mitsamt seinen neuen Leistungsträgern. Ein Bild der Zuversicht, das Toleranz und Nachsichtigkeit verbreitet, ganz ohne Penetranz. Die Zukunft kann kommen: Denn neue Söhne bekommt das Land.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/mein-vater-sein-vater-und-ich