Into the Ice (2022)

Das Ächzen schmelzender Gletscher

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Auf den ersten Blick sieht die weiße Landschaft reglos und vollkommen friedlich aus. Aber die Forscher, die auf dem grönländischen Eisschild die Auswirkungen des Klimawandels messen und erkunden, kennen die tägliche Gefahr. Der Untergrund ist in ständiger Veränderung und Bewegung, Gletscherspalten tun sich auf, Schneebrücken können plötzlich einbrechen. Der dänische Dokumentarfilmer Lars Henrik Ostenfeld hat drei weltweit führende Gletscherforscher*innen bei ihren abenteuerlichen und riskanten Einsätzen im Gelände begleitet: die Dänin Dorthe Dahl-Jensen, den Briten Alun Hubbard und den Amerikaner Jason Box. Hier, am Ort der drastischen Gletscherschmelze selbst, erfühlen sie sozusagen den Pulsschlag eines Planeten, der sich unwiderruflich veränder

Der grönländische Eisschild ist die zweitgrößte Eiskappe der Welt, nach der Antarktis. Um verlässliche Vorhersagen zu ermöglichen, wie schnell und wie stark die Meeresspiegel auf der Welt ansteigen werden, wollen die Forscher herausfinden, wie es im Inneren der schmelzenden Gletscher aussieht. Das Team der dänischen Forscherin Dorthe Dahl-Jensen befördert mit Bohrstäben Eis aus verschiedensten Epochen zutage, bis hin zur letzten Eiszeit, und analysiert seine Beschaffenheit. Alun Hubbard will sich unter Lebensgefahr in eine sogenannte Gletschermühle abseilen, einen vom Schmelzwasser gegrabenen Schacht, der 180 Meter tief ist. Denn er möchte erfahren, ob sich unter dem Boden der Mühle ebenfalls Schmelzwasser befindet. Solche Erkenntnisse sind wichtig, um die Erosion der Gletscher zu prognostizieren. In seinem Voice-Over-Kommentar, der auf Deutsch von Campino eingesprochen ist, betont der Filmemacher Ostenfeld, dass diese Feldforschungen von den Daten, die Satelliten und Lasermessungen aus Flugzeugen liefern, nicht restlos ersetzt werden können.

Der Film hat den Charakter eines Abenteuerfilms, denn die Forscher, die Ostenfeld begleitet, sind moderne Entdecker. Das Gelände, das sie betreten, ist für sie zum Teil Neuland, weil es sich so sehr verändert. In einem der Teams kommt ein erfahrener Wissenschaftler in einer unbemerkten Gletscherspalte zu Tode, während Ostenfeld gerade an einem anderen Ort für diesen Film dreht. Bevor sich Alun Hubbard in die Gletschermühle abseilt, zieht er eine Art privater Lebensbilanz und stellt sich prüfend noch einmal selbst die Frage, die er erwartungsgemäß bejaht, ob er das Risiko für die Forschung eingehen will. Ostenfeld liefert spektakuläre Bilder aus dem Inneren der Gletschermühle, mit den vielen verschiedenen Formationen der Eiszapfen, den mal glatten, mal rauen Eiswänden, den Spuren hinabgestürzter Eisbrocken. Manchmal ist das bedrohliche Ächzen und Tosen der vereisten Materie zu hören. Oben auf dem Eisschild müssen die Forscher eines Nachts ihre Zelte vor einem heraufziehenden Sturm schützen, indem sie in stundenlanger Arbeit einen Wall aus Schneequadern errichten.

Aufgrund der steigenden Temperaturen gibt es hier seit Jahren mehr Schneefall und mehr Regen, was zum Teil gegensätzliche Folgen für den Schmelzprozess der Gletscher hat. Mit ein paar animierten Grafiken veranschaulicht Ostenfeld einige der Vorgänge in dieser Eislandschaft, die sich ständig bewegt. Und immer wieder ist zu hören, wie warm es hier draußen sei, dass beispielsweise in diesem April schon Sommerwetter herrsche. Ein Mann macht auf seiner Matte draußen so leicht bekleidet Morgengymnastik, als befände er sich am Strand des Mittelmeers. Was sie hier draußen erleben, bezeichnen Ostenfeld und seine Gesprächspartner als eine Art „Katastrophe in Zeitlupe“.

Um den Kohlendioxid-Ausstoß zu kompensieren, den er als Gletscherforscher verursacht, legt Jason Box seit Jahren an einem eisfreien Ort auf Grönland einen Wald an. Wer das Ächzen der Natur unter dem Klimawandel so deutlich vernimmt wie diese Forscher, hat dem Rest der Welt eine Botschaft zu vermitteln. Anstatt sich hauptsächlich auf Messwerte und anderes Zahlenmaterial zu stützen, will Ostenfeld mit seinem Film helfen, diese Botschaft emotional und sinnlich erfahrbar zu machen. Das gelingt ihm auf eindrückliche Weise.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/into-the-ice-2022