Der rote Berg (2022)

Geborgenheit am Berg?

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Felsen. Ganz groß im Bild. Schichtungen, Steinmaserungen, Tönungen von rot. In diesen Felsen kann man alles sehen. Aber sehen sie auch dich? Dazu tiefdröhnende Geräusche, dann die Stimme, die erklärt: 4.000 Jahre ist es her, ein assyrischer Prinz kam mit seinem gesamten Gefolge hierher, hat einen prunkvollen Palast gebaut, der seit langer Zeit verschlossen ist, eingemauert… Die Kelten. Der Heilige Hieronymus. Thor – und Loki. Sie alle sind hier bei Trier versammelt, am roten Felsen, in den rotliegenden Gedankengängen von Volker. Seine Worte sind es, wie von einem nicht-bayrischen Werner Herzog eingeflüstert. Am Felsen sind Planen, Aufbauten, Hütten angepappt, Leitern, Zelte, Stufen und Wege. Alles sehr wacklig, alles wind- und wetterfest. Seit Jahrzehnten haust Volker hier, und das könnte echt sein oder Fiktion, das ist letztendlich egal.

Timo Müller lässt seine Kamera blicken. Blickt auf die Felsen, blickt auf die Einsiedeleien. Blickt auf zwei Jünger von Volker, die dessen Person zu erklären versuchen. Der eine ist dabei herrlich ausgeleuchtet in einer Weise, die an die Alten Meister erinnert. In gesetzten Worten versucht er Volker, den Berg und sich selbst in Einklang zu bringen. Der andere hingegen versucht in schnellfließenden Gedanken sich selbst, Volker und die Welt zu verbinden.

Ändert sich nicht in Quantenwelten das Ergebnis des Experiments mit dem Beobachter? Kann sich nicht die Welt ändern, wenn man sich selbst ändert? Ist der Konformitätsdruck der Gesellschaft zu überwinden, wenn man mal über den Rand des eigenen Bechers geschaut hat? Hat sich nicht eine Unmenge an Orgon im metallhaltigen Gestein angesammelt, in den Millionen von Jahren seines Bestehens, und aktiviert das akkumulierte Orgon nicht etwas im Menschen?

Vier Jugendliche hängen rum. Sie labern, sie suchen Spaß, den es dann gibt, wenn keine Langeweile aufkommt. Sie stolpern durch den Wald, oben, über der Straße, über der Mosel, wo die Ausflugsschiffe hin und her fahren; sie stolpern über Zelte, Unrat, über die Mittel zum Leben und Überleben oben unter den Bäumen, bei den Felsen, sie durchsuchen die Behausungen. Spaß. Abenteuer. Und Geheimnis.

Timo Müller verwirbelt die mächtigen Bilder von Baum und Stein mit den mächtigen Gedankengängen eines Mannes, der Philosoph ist, Eremit und ausgemachter Spinner (nüchtern betrachtet), verbindet dies mit den Jugendlichen, die Freizeit haben und die Freiheit, einfach durch die Gegend zu ziehen, aber auch nicht viel anderes zu tun haben. Sie übernehmen die Funktion eines griechischen Chors, den wir auf seinen Streifzügen durch die Welt von Volker begleiten.

Doch Menschen tauchen in diesem Film nicht nur auf. Sie verschwinden auch. Tanja Gräff ist hier abgestürzt, was bundesweit großes Aufsehen erregte. Ein Eulenjäger wird vermisst. Wo der geblieben ist, weiß niemand. Aber Loki ist unterwegs und Volker ist sich sicher, dass er zu Thor werden wird: Der Heilige Hieronymus hat hier in einer Höhle, hoch oben, Unterschlupf gefunden. Alles ist hier am Wirken und die Jugendlichen steigen in Höhlen, finden Müll, Schnaps und Maggi. Und Magie? Mystik? Mythos?

Der rote Berg ist ein enormer Film mit einer großen künstlerische Vision. Timo Müller findet Bilder, die der Landschaft ein Geheimnis verleihen, einzig indem er beobachtet, aufnimmt, Worte und Gedanken für sich stehen lässt. Irgendwo muss sie sein, die Wahrheit über die Welt, vielleicht nur im Kopf von Volker, vielleicht hinter den Rissen des Felsens. Mit Der rote Berg Komplex ist bereits ein Nachfolger in Arbeit.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-rote-berg-2022