Strange World (2022)

Wie der Vater, so der Sohn?

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Die spannendsten Filme sind mitunter solche, die einen recht vorhersehbaren Verlauf zu nehmen scheinen, nur um dann eine neue Ebene zu enthüllen, die das Ganze reichhaltiger und tiefgründiger macht. „Strange World“ aus der Schmiede der Walt Disney Animation Studios bewerkstelligt genau das. Irgendwann kommt der Punkt, an dem die Geschichte einen cleveren Haken schlägt und aus einem kurzweiligen Abenteuerstreifen mit erwartungsgemäß eindrucksvoller Optik ein richtig gutes Werk mit Haltung und spannender Vision wird. An einigen erzählerischen Stellschrauben hätte man sicherlich noch drehen können. Fehlende Kreativität darf man den Verantwortlichen rund um Don Hall und Mitregisseur Qui Nguyen, der auch das Drehbuch schrieb, aber nicht vorwerfen.

Gleichwohl ist der Konflikt, mit dem Strange World beginnt, klassischer Natur: Der leidenschaftliche Entdecker und Erforscher Jaeger Clade (Stimme im Original: Dennis Quaid), Typ Reinhold Messner, scheut keine Herausforderung, hat vor Erreichen eines Ziels schon die nächste Aufgabe im Blick – und glaubt, dass alle seinen Eifer teilen müssen. Vor allem seinen Sohn Searcher nimmt er in die Pflicht, schließlich gilt es, den Ruf als Familie mit legendärem Abenteuerdrang fortlaufend zu bestätigen. Bei einer Expedition kocht eines Tages ein Konflikt zwischen Jaeger und seinem Junior hoch, der unterwegs auf eine Pflanze stößt, die Energie erzeugt und damit die Zukunft ihrer Heimat Avalonia sichern könnte. Der Haudegen will sich mit dem Fund jedoch nicht zufriedengeben, stapft allein weiter, um endlich hinter die Berge zu gelangen – und verschwindet auf Nimmerwiedersehen.

25 Jahre später führt Searcher mit Ehefrau Meridian (Gabrielle Union) und Teenagersohn Ethan (Jaboukie Young-White) ein beschauliches Leben als Farmer, der seine Pando genannte Entdeckung liebevoll umsorgt. Da die besondere Pflanze Avalonia auf eine neue Entwicklungsstufe gehoben hat, ist er hoch angesehen und darf sich über eine eigene Statue freuen, neben dem Standbild seines tollkühnen Seniors. Als Jaegers frühere Weggefährtin und jetzige Avalonia-Präsidentin Callisto Mal (Lucy Liu) unvermittelt bei Searcher auftaucht, muss sich der einstige Abenteurer entscheiden, ob er noch einmal den Schritt ins Ungewisse wagen will. Das unter der Erde komplett miteinander verbundene Pando-Geflecht ist nämlich angegriffen und droht, gänzlich zu verfaulen. Anfängliche Zweifel beiseiteschiebend begibt sich Searcher mit Callisto und ihrer Crew in den unerforschten Untergrund, der sich als schillernd-fremdartige Welt entpuppt. Heimlich hat sich auch Ethan an Bord des Flugschiffes geschlichen, was wiederum seiner Mutter nicht entgangen ist. Deren Künste als Pilotin sind auf der Suche nach der Ursache für das Pando-Problem schnell gefordert.

In die Fußstapfen des Vaters treten oder eigene Wege gehen? Vor allem um diese Frage dreht sich die Erzählung, in der sich, nicht allzu überraschend, gewisse Erziehungsmuster wiederholen. Obwohl Searcher glaubt, anders zu sein als sein Vater, projiziert auch er seine Leidenschaft und seine Ambitionen auf seinen Sohn, der natürlich irgendwann die Farm übernehmen soll. Ethan zu fragen, ob er überhaupt Lust hat – auf die Idee kommt er nicht und steht damit Jaeger in nichts nach. Wie das Ganze enden wird, dürfte, zumindest in groben Zügen, klar sein. Bemerkenswert ist allerdings, wie es das Drehbuch schafft, den Erkenntnisprozess der Figuren mit aktuellen Bezügen aufzuladen. Searcher und mehr noch sein Vater sehen vor allem ihre eigenen Interessen, greifen bei Problemen zu eher drastischen Lösungsmitteln und erinnern entfernt an die Entdecker/Eroberer*innen der Kolonialzeit.

Ethan hingegen, den man als Verkörperung der Generation Fridays for Future lesen kann, regt zum Umdenken an, propagiert einen respektvollen Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen. In seinen Augen ist der in herrlichen Farben erstrahlende, von allerlei ungewöhnlichen Lebewesen bewohnte Untergrund ein faszinierendes Universum, kein bedrohlich-feindseliger Ort, wie ihn einige der anderen Expeditionsteilnehmer*innen wahrnehmen. Seine Freundschaft mit einem blauen, verformbaren Kleks, der Arme und Beine hat, ist aufrichtig und liefert, obschon die Kreatur nicht sprechen kann, einige berührende Momente.

Gelegentlich hätte sich der dynamisch getaktete Film etwas ausgedehntere Ruhepausen gönnen dürfen, um den emotionalen Beats noch mehr Wucht zu geben. Mit dem oben erwähnten Twist wird Strange World jedoch um eine ungemein aufregende Facette erweitert. Plötzlich erklärt sich auch, warum es bislang so schwierig war, eine eindeutige antagonistische Kraft zu identifizieren. Bei aller Freude über die anziehenden, ausdrucksstarken Bilder und den inhaltlichen Kniff gibt es am Ende einen Wermutstropfen, der beweist, dass Disney trotz Diversitätsbekundungen von wirklicher Gleichberechtigung noch ein Stück entfernt ist. Ethans Homosexualität wird erfreulicherweise nicht problematisiert. Anders als seine Eltern, die sich mehrfach küssen, darf er seinen Schwarm aber nur in den Arm nehmen. Hier verpasst es das sonst so haltungsfreudige Animationsabenteuer, ein klares Statement zu setzen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/strange-world-2022