Elfriede Jelinek - Die Sprache von der Leine lassen (2022)

Die Prophetin im eigenen Land

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Wie kann Sprache zu Literatur werden, und wie im Kino über diese Literatur sprechen? Claudia Müller porträtiert Elfriede Jelinek, im Mittelpunkt deren Werk, insbesondere ihre Sprachformen, ihr Formen der Sprache. Vom musikalischen Fluss, von der Macht und der Leidenschaft der Sprache, vom Thematisieren sozialer Klischees ist die Rede bei der Begründung der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2004 – doch Müller vermeidet es, die typischen Talking Heads von Experten und Exegesen ins Bild zu setzen, sie macht keinen Film über Jelineks Sprache, sondern mit Jelineks Sprache.

Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen besteht aus Archivmaterial, aus Interviews mit der Schriftstellerin, aus Ausschnitten von Lesungen, von Theateraufführungen, aus TV-Sendungen über sie – in Form gebracht in einer ausgesprochen rhythmischen, durchaus assoziativen, aber nie abwegig-willkürlichen filmischen Montage, in die Bilder der historischen Steiermark einfließen, aus der Gegend, in der Jelinek aufgewachsen ist, Momentaufnahmen österreichischer Politgeschichte mit Waldheim, dem Altnazi als Bundespräsident, mit Haider, mit Protestbürgern gegen Jelinek. Und kontrastiert mit ruhigen Fahrten und Schwenks durch Landschaften, vermischt mit dem Lesen von Textpassagen, für die Künstler wie Sophie Rois und Sandra Hüller, Maren Kroymann und Martin Wuttke gewonnen werden konnten.

Von diesen Texten her erschließt sich der Film die Biografie, unterstützt von Aussagen Jelineks über ihr Aufwachsen zwischen erzkatholischer mütterlicher Seite – die blutigen Märtyrer-Heiligenlegenden! – und jüdischer väterlicher Seite – die realen Toten des Holocaust! –, über die Hinwendung zur Literatur, experimentell, aktionistisch, über einzelne Texte und Stücke und über deren Verhältnis zu Österreich. Sprache wird in dem Film als Kunst betrachtet, eine Kunstbetrachtung, die zurückführt zur Künstlerin.

Jelinek wendet ihr eigenes Erleben in ihren Texten an, durchmischt verschiedene Stimmen, schreibt sozusagen fürs Gehör, die Laute der Worte sind wichtig; sie nimmt ihr eigenes Erleben – die Familie, die Heimat, die Gesellschaft, wie sie ihr begegnet – auf und transportiert sie hinauf ins literarische Denken. Dafür wurde sie gefeiert – bis man in Österreich bemerkte, wie politisch das alles ist, und wie sehr sie den braunen Dreck aufwühlt, der sich so schön abgesetzt hat unter der klaren, reinen Gegenwart eines Felix Austria. Nestbeschmutzerin – wie kann man Österreich so in den Dreck ziehen! Ein allzu bekanntes Muster der Verachtung dessen, der genau hinschaut, das durch den Nobelpreis nicht besser wurde. Jelinek zieht sich zurück. Claudia Müller hat kein Bildmaterial in ihrem Film von nach 2004. Dass Jelinek nicht nachlässt, das macht sie deutlich durch deren Texte; durch ein sorgsam verstecktes aktuelles Audio-Interview, das sie mit einfließen lässt.

Elfriede Jelinek ist nicht persönlich anwesend in diesem Film – aber sie hat ihn begleitet, im Austausch mit der Regisseurin. Sie hat den Film gesehen, und sie ist höchst zufrieden. Weil hier etwas entstanden ist, mit dem man kompakt, aber tiefgehend diese Schriftstellerin verstehen kann.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/elfriede-jelinek-die-sprache-von-der-leine-lassen-2022