Not Knowing (2019)

Stolz und Vorurteil – und Wasserball

Eine Filmkritik von Falk Straub

„Mein Ziel ist es, einer Welt voller Ignoranz und Vorurteile entgegenzutreten, indem ich einen kleinen Teil davon anspreche“, sagt Leyla Yilmaz über ihren Film. Der kleine Ausschnitt Lebenswirklichkeit geht in einem Schwimmbecken über die Bühne. Junge Männer einer Schulmannschaft trainieren Wasserball. Foulspiel ist verboten, spielt sich unter der Wasseroberfläche aber dennoch ab. Für die Regisseurin ist das die perfekte Metapher auf zwischenmenschliche Beziehungen.

Umut (Emir Ozden) ist anders: deutlich kleiner als seine Teamkollegen und nicht ganz so kräftig. Seine Gesichtszüge sind so sanft wie sein Gemüt. Für den Bully Berk (Arda Aranat) genügt das schon, um Umut das Leben schwerzumachen. Berk setzt das Gerücht in die Welt, Umut sei schwul – und verlangt von ihm, sich vor versammelter Mannschaft dazu zu äußern. Doch Umut schweigt. Aus Trotz, aus Stolz, aus Prinzip? Und spielt das eine Rolle?

Umuts Eltern Sinan (Yurdaer Okur) und Selma (Senan Kara) bekommen von der Sache erst Wind, als ihr Kind in den Brunnen gefallen ist. Zu diesem Zeitpunkt ist ihr 17-jähriger Sohn schlagartig verschwunden, was dem Film kurz vor Schluss eine völlig neue Richtung gibt. Davor sehen wir einer Familie dabei zu, wie sie langsam auseinanderfällt. Sinan und Selma, beide von ihrem Job gefrustet, haben sich schon lange nichts mehr zu sagen. Statt einander einmal richtig die Meinung zu geigen, schweigen sie sich an. Auch bei der Arbeit schlucken sie ihren Unmut lieber herunter, als den Mund aufzumachen.

Die Konstellation erinnert ein wenig an Elmar Ivanovs End of Season (2019) aus demselben Jahr. Auch der dreiköpfigen Familie in jenem Drama kam ein Mitglied abhanden, (tauchte im Gegensatz zu Umut aber wieder auf). Auch bei Ivanov lebten die Familienmitglieder aneinander vorbei, anstatt miteinander zu kommunizieren. Und so wie Ivanov die moderne aserbaidschanische Familie einer Bestandsaufnahme unterzog, legt nun auch Leyla Yilmaz die moderne türkische Familie auf die Couch. Was ihr Film dem ihres Kollegen voraus hat: Obwohl ebenfalls metaphorisch erzählt, verliert er sich nicht in seinen Metaphern.

Not Knowing ist Leyla Yilmaz' zweiter Film. Darin erzählt die Regisseurin vom Schweigen und vom Nichtwissen. Ganz bewusst enthält sie uns Informationen vor. Meryem Yavuz' Kamera zeigt viel, aber nie alles. Ihre Bildausschnitte deuten an und imitieren so die Mechanismen, wie Gerüchte in die Welt gesetzt werden. Hat der Vater eine Affäre mit seiner ehemaligen Sekretärin oder versteht er sich nur gut mit ihr? Und spielt das eine Rolle? Geht die Mutter mit einem ehemaligen Klassenkameraden fremd oder bringt er sie nur auf andere Gedanken? Und spielt das eine Rolle? Ist Umut schwul oder nicht? Weiß er es selbst? Und spielt das eine Rolle?

Nach Umuts Verschwinden wechselt die Tonalität. Ein Mehltau hat sich auf die Bilder gelegt. Mit den Figuren erstarren auch die Kameraeinstellungen. Yilmaz zeigt, was passiert, wenn die Gerüchte nicht enden wollen und der Druck irgendwann zu viel wird. Nicht laut und effekthascherisch, sondern leise, aber nachdrücklich. Selbst zum Filmende hin klärt sie uns nicht auf. Die Ungewissheit, mit der wir nach Hause gehen, ist beunruhigend und hallt umso lauter nach.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/not-knowing-2019