Mehr denn je (2022)

Ins Blaue

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Schockdiagnose: Lungenfibrose. Die 33-jährige Hélène (Vicky Krieps) aus Bordeaux fällt aus allen Wolken, als bei ihr plötzlich eine tödlich endende Krankheit diagnostiziert wird. Sie wird nicht mehr viel Zeit haben, heißt es. Und der Tod durch Ersticken sei unausweichlich, weil es dagegen keine effektiven Medikamente oder Operationsmethoden gibt, die das Sterben irgendwie stoppen könnten. Vielleicht könnte ihr eine erfolgreiche Lungentransplantation noch zwei, drei Jahre schenken, ist zumindest Hélènes Mann Mathieu (in seiner letzten Rolle: Gaspard Ulliel) überzeugt. 

Doch das eigentlich erfüllte Liebesleben beider Romantiker ist infolge jenes unumkehrbaren Paukenschlags irreversibel aus den Fugen geraten. Wie soll man jetzt noch Freunde auf eine möglichst normale Art und Weise treffen können? Wie werden beide Familienseiten mit diesem urplötzlichen Schreckensszenario umgehen? Und wie hält ihre innige Liebesbeziehung eine derart krasse Schicksalswendung überhaupt aus?

Ohnmacht macht sich im Leben der jungen Architektin zusehends breit. Denn immer öfters muss sie ihr Sauerstoffgerät parat haben, wenn sie noch etwas Leben spüren möchte. Egal ob beim Sex oder beim Ausgehen: ihr bleibt rasch im Wortsinn die Luft weg, ehe ein nächster Hustenanfall beginnt oder ihr Kreislauf vor Erschöpfung wiederholt ins Taumeln gerät. Dabei hatte die junge Architektin im nächsten Lebensschritt eigentlich von einer Familie geträumt …

Wie lange geht das noch? Ein letztes Mal lieben, ein letztes Mal Atmen. Bis die schwer malträtierten Lungenflügel der sterbenskranken Frau, die von Vicky Krieps atemberaubend souverän verkörpert wird, eines Tages nicht mehr funktionieren werden. In all ihrem Kummer stößt Hélène beim Surfen im Internet auf den Blog eines Skandinaviers namens „Mister“ (alias Bent: Bjørn Floberg), der selbst weiß, was schwere Diagnosen bedeuten und damit verbundene Traumata auslösen; weshalb er regelmäßig mit Todkranken in aller Welt kommuniziert und ihnen dabei seine persönlichen Weisheiten (wie etwa: „Die Lebenden können die Sterbenden nicht verstehen“) zukommen lässt.

Gegen den Willen Mathieus sucht sie Bent, der mit trockenem Humor und viel ironisch grundierter Gelassenheit gesegnet ist, schließlich in dessen norwegischer Heimat auf. Alleine wohlgemerkt. Denn genau in dieser bewussten Entscheidung, ohne Partner, Freunde oder Familienangehörige zu reisen, spiegelt sich Hélènes wissentlich letzter Lebenswunsch wider:  Sozusagen im Angesicht des Todes und doch in einer beinahe unwirtlich schönen Märchenlandschaft (Bildgestaltung: Yves Cape). Inmitten einsamer Fjordlandschaften und klarer Bergseen verschlechtert sich Hélènes Verfassung immer weiter – und nährt in ihr zugleich das Gefühl des puren Unmittelbarseins.

Emily Atefs in Cannes uraufgeführtes Drama Mehr denn je gleicht von vornherein mehr einem originellen Liebes- denn einem klassischen Leidensdrama, wie man es schon viel zu oft im Kino oder im Fernsehen gesehen hat. Anrührend, aber keineswegs rührselig im Tonfall, steht hier eine ungeheuer präsente Hauptdarstellerin im Fokus, die ihren letzten Weg unausweichlich gehen muss – und im Subtext noch einmal zu sich selbst findet. Sowohl beim Baden im kristallklaren Wasser wie beim mühsamen Wandern im Gebirge ahnt man oft nur Hélènes inneres Kosmos, ohne dass alles jemals auserzählt (Drehbuch: Emily Atef/Lars Hubrich) würde, was diesem leisen, dennoch eindringlichen Film übers Abschiednehmen und Freisein-Wollen wunderbare Zwischenkonturen verleiht.

Dass sich die deutsch-französische Regisseurin mit Frauen am Rande des suizidalen Nervenzusammenbruchs auskennt, hatte die 1973 in West-Berlin geborene Filmemacherin bereits mit 3 Tage in Quiberon (2018), Töte mich (2012) und Das Fremde in mir (2008) eindrucksvoll unter Beweis gestellt. In Mehr denn je kann sie neben ihrem inszenatorischen Können in der Titelrolle zudem auf eine der gegenwärtig gefragtesten Schauspielerinnen ihrer Generation zurückgreifen: Die Luxemburgerin Vicky Krieps, die ihre große Begabung (wie zuletzt in ihrer „Sissi“-Interpretation in Marie Kreuzers Corsage) von Neuem unterstreicht.

Und so ist Mehr denn je am Ende auch ein Triumph für seine fulminante Hauptdarstellerin, die Atefs en gros unsentimentalen Emanzipationsfilm von alleine trägt und ihm im Innersten eine überzeugende Präzision wie Vielschichtigkeit verleiht, die auch abseits all jener majestätischen Fjordlandschaften im Hier und Jetzt lange nachhallt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/mehr-denn-je-2022