Die Ruhelosen (2021)

Malen, bis der Arzt kommt

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Ein „Problemfilm“ sollte die neue Arbeit des Belgiers Joachim Lafosse („Die Ökonomie der Liebe“, 2016)“ nicht werden. Schließlich ist der Mann als Spezialist für das feine Aufdröseln komplexer zwischenmenschlicher Beziehungen bekannt, nicht für plakative Thesen. Und so folgt das Drama um einen Maler mit bipolarer Störung einfühlsam und charaktergetrieben der kleinen Familie, um die sich alles dreht. Neben Damien (Damien Bonnard), dem Vater, ist dies seine Frau Leïla (Leïla Bekhti) und deren Sohn Amine (Gabriel Merz Chammah, Enkel von Isabelle Huppert). Das Kammerspiel um die kleinste Einheit menschlichen Zusammenlebens stellt in weiten Teilen nicht das Phänomen der psychischen Krankheit in den Mittelpunkt. Sondern die Belastbarkeit der Liebe zwischen allen Teilen des Dreiecks.

Ein Urlaub am Strand, irgendwo im Süden: Die Mutter schläft selig im Sand, während ihre beiden Männer schnorcheln gehen. Alles sieht aus wie die normalste Sache der Welt. Doch dann springt der Vater plötzlich von dem Motorboot, mit dem die beiden rausgefahren sind. Er wolle zurück zum Strand schwimmen, ruft er dem verdutzten Kind zu, das vielleicht sieben oder acht ist. Der Sohn solle das Boot allein zurück fahren. Keine Absprache, keine Rückversicherung, ob der kleine Mann sich das auch zutraue. Zwar stellt sich Amine, das Kind, erstaunlich geschickt an. Aber die Anspannung in seinem Gesicht spricht Bände. Schnitt: Am Abend tanzen Damien und Leïla in inniger Sinnlichkeit. Alles ist gut gegangen. Die Liebe siegt über den unverantwortlichen Leichtsinn des Vaters. Noch.

Es vergeht viel Zeit, bis das Wort „bipolar“ fällt, also die Bezeichnung für eine seelische Störung, bei der die Betroffenen von einem Extrem ins andere fallen, von einer grotesk übersteigerten Erregung in die tiefste Depression. Der Verzicht auf dieses Etikett ist eine gute Entscheidung. Denn wie der Film zeigt, ändert das Aufdrücken eines Labels alles: das Vertrauen, die Intimität, das Miteinander auf Augenhöhe. Selbst als Damien erstmals in der Psychiatrie landet, erzählt der Film die Episode mit riesigen Auslassungen. Stattdessen konzentriert er sich auf die Haltung eines Liebenden: verstehen, verzeihen, mitfühlen. 

In einer langen Sequenz, einem der Höhepunkte des Films, fiebert die Kamera (Jean-François Hensgens) mit, wie Damien ein Bild malt. Sie umschmeichelt ihn ganz nah, registriert jedes hektische Hin und Her, den starren Blick, die nervöse Ungeduld. Und doch muss sich genau in der Leerstelle des ersten Psychiatrieaufenthaltes etwas ereignet haben, was Leïlas Empathie nach und nach aufzehrt. Sie, die einer befriedigenden Arbeit als Möbel-Restaurateurin nachgeht, möchte den nächsten „Schub“ verhindern. Das macht aus der Geliebten quasi eine Krankenschwester, aus dem ruhenden Pol eine ebenfalls rastlos Getriebene.

Im Grunde könnten die Eltern aus der Abwärtsspirale aussteigen, würden sie auf ihr Kind hören. Der Junge ist noch zu klein, um seinen Vater in die Schublade „bipolar“ zu stecken. Er spürt instinktiv, wenn etwas schief läuft, nicht nur bei Papa, sondern auch bei Mama. Regisseur Joachim Lafosse hat hier biografische Erfahrungen verarbeitet. Sein eigener Vater litt unter der Krankheit. Ein Stück weit schaut der mal mit nervöser, mal mit ruhiger Handkamera gedrehte Film somit durch die Augen des Kindes. Wie der Sohn bewahrt sich die Inszenierung eine gewisse Unschuld. Sie saugt staunend jede emotionale Abweichung auf, jeden Tick zu viel an Kreativität, Lebensfreude und Spontaneität. Wie ein Seismograf registriert sie das Ansteigen und Abfallen des inneren Brodelns, das Damien und später auch Leïla befällt. Dank der außerordentlichen Intensität der beiden Hauptdarsteller überträgt sich die Spannung in den Kinoraum. Es fehlt wenig, dass das Publikum mit den Hufen scharrt.

Trotzdem wird Joachim Lafosse seinem Anspruch, keinen Film über Bipolarität gedreht zu haben, nur zum Teil gerecht. Denn in der zweiten Hälfte zwingt er das Publikum in die Rolle der Krankenschwester, deren Gesichtskreis sich auf Pillen und Symptome verengt. Zwar funktioniert Die Ruhelosen tadellos als Film über die innere Dynamik einer von Bipolarität betroffenen Familie. Aber den Anspruch, etwas Universelles über alle menschlichen Beziehungen zu erzählen, über befremdliches Verhalten und enttäuschte Erwartungen, kann er nur in der ersten Hälfte einlösen. Der Fokuswechsel weg vom ruhelosen Damien und hin zur ruhelosen Leïla verhindert, dass man von den krankheitsspezifischen Katastrophen abstrahieren könnte. 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-ruhelosen-2021