Auslegung der Wirklichkeit – Georg Stefan Troller (2021)

Pionier der Personenbeschreibungen

Eine Filmkritik von Bianca Jasmina Rauch

"Der Jahrhundertfilmer" betitelt nicht umsonst die DVD-Sammlung mit über 800 Minuten Videomaterial den Dokumentaristen Georg Stefan Troller, der ab den 1960er Jahren zahlreiche Personen der Öffentlichkeit porträtierte. Im Wettbewerb zeigte die Diagonale 2022 unter dem Titel "Jahresrückblick" auch Spielfilme und Dokumentationen, die bereits einen Kinostart hinter sich hatten. Regisseurin Ruth Rieser führte mit dem 1921 geborenen Journalisten Gespräche über seine Arbeit, sein Leben und die Konstruktion von Realität. In Kombination mit Ausschnitten aus Trollers Pariser Journal und seinen Personenbeschreibungen fügen sich 100 Jahre eines Lebens zwischen Österreich, USA und Deutschland in zwei Filmstunden zusammen.

Herauszufinden, warum eine Person so ist, wie sie ist, formuliert Troller als Kern seiner Motivation Menschen zu porträtieren. Sein Stil, Interviews mit seinem eigenen Kommentar aus dem Off zu kombinieren und die deutschen Übersetzungen in die Atempausen der Sprechenden zu legen, stellten eine Neuheit dar, die fortan auch viele seiner Kolleg*innen inspirierten. Mit Fragen stoppen müsse man an dem Punkt, an dem man das Selbstverständnis eines Menschen erschüttere, erklärt Troller uns seine Vorgangsweise. An seinem Schreibtisch und im Wiener Metro-Kino sitzt er der Filmemacherin und Schauspielerin Ruth Rieser gegenüber, die mit ihren Fragen hin und wieder auch sanft aber bestimmt nachzubohren weiß. Die Journalausschnitte zeigen Troller im Gespräch mit Agnès Varda, Gisèle Freund, Felix Mitterer, Edith Piaf, John Malkovic aber auch in einem US-Gefängnis oder beim Besuch einer Ranch.

Begeistert erzählt der 100 Jahre alte Troller vom Extremsport Rodeo als eine Herausforderung der Männlichkeit, lässt aber das Leid der Tiere dabei unerwähnt. Rieser fragt, warum er dies nicht in seiner Kurzdoku erwähne, und er erklärt, er wolle dem Publikum nicht die Freude am Film nehmen, würde heute aber wohl anders an die Sache herangehen. Welche Wirklichkeit schuf Troller also, und gibt es überhaupt eine Wirklichkeit außerhalb ihrer Auslegung? Das ist die große Frage, die über dem Gespräch des Films und über dem Werk Trollers liegt. Abseits des Pariser Journals und seiner Personenbeschreibungen schrieb Troller 20 Bücher, oft arbeitete er etwa mit Axel Corti zusammen. 

Rieser besucht mit Troller auch die vergangenen Orte seiner Kindheit der 1930er Jahre in Wien. Gemeinsam mit seinen Eltern und viel Glück konnte der Sohn eines jüdischen Pelzhändlers 1938 in die Tschechoslowakei und anschließend in die USA emigrieren. Nachdem er Anfang der 1940er in die Army eingezogen wurde, erlebte er die Befreiung des KZ Dachaus als US-Soldat mit und wurde angeleitet, die deutschen Kriegsgefangenen zu befragen. Die Gesprächstaktiken, die er sich hierbei erarbeitete, sollte er später in seinen Arbeiten fürs Fernsehen weiter verwenden.

Von "Gleich zu Gleich" müsse man sich unterhalten, um an Informationen zu kommen, berichtet Troller und macht seine psychologischen Tricks transparent. Im Kern habe ihn die Frage, wie man richtig lebt, nie losgelassen, und die Zeit nach dem Krieg habe ihn seine Emotionen lange Zeit verstecken lassen, sodass er fortan in seinem Gegenüber nach menschlichen Gefühlen suchte, die ihm selbst durch den erlebten Antisemitismus und den mit der Emigration einhergehenden Verlust der Sprache fremd geworden waren. Indem Troller nicht nur über seine Arbeit sinniert, sondern auch seine Lebensgeschichte Revue passieren lässt und seine Arbeitsweise mit seinen Motivationen und Prägungen verbindet, bringt er dem Filmpublikum näher, dass keine Tätigkeit losgelöst von ihren Verhältnissen und ihrer Entstehungsgeschichte zu betrachten ist. Diese mitunter selbstkritische Relativität macht den Dokumentaristen Troller zu einer nach wie vor inspirierenden Person, der wir uns dank Riesers Porträt  – das ohne Off-Kommentar auskommt – ein wenig annähern können. Das einzige Versäumnis des Films ist es, den Archivausschnitten keine Verweise zuzuordnen – das Ensemble der DVDs macht die Suche nach den Originaltiteln in diesem Fall natürlich leichter.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/auslegung-der-wirklichkeit-georg-stefan-troller-2021