Lichter der Stadt (2020)

Im Sog des „Flows“

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Manche Dinge entscheiden sich in einer einzigen, denkwürdigen Nacht. So ergeht es Joscha (Tim-Fabian Hoffmann), einem jungen Mann Ende 20. Er treibt sich herum, irgendwann vor Weihnachten, wenn die Tage immer kürzer werden und die Lichter der Großstadt gegen die Dunkelheit ankämpfen. Es ist eine Zeit der Besinnung und auch der Melancholie. Ein Anlass zum Nachdenken. Kann das Leben so weitergehen? Muss es eine neue Richtung einschlagen? Und welche? Was ist mit denen, die nicht mehr weiter wissen? Taucht aus dem Flackern der Beleuchtung vielleicht ein Hoffnungsschimmer auf?

Joscha steht am Geländer des Flusses, schaut auf das glitzernde Wasser. Er raucht. Manchmal beugt er sich übers Geländer, schaut nach unten. Hat er etwas vor, was einem Sorgen machen müsste? Sein Gesicht sieht müde aus, abgekämpft, irgendwie am Ende. Zugleich wirkt er nervös, schaut dauernd aufs Handy. Er geht ein paar Schritte. Aus dem Dunkeln taucht eine Nachbarin (Johanna Wieking) auf, die zufällig vorbeikommt. Die junge Frau agiert ein bisschen schräg und aufgedreht. Sie reißt den jungen Mann aus seinen trüben Gedanken. Als sie weitergeht, erfahren wir, warum Joscha überhaupt hier ist. Er kauft bei einem Dealer zwei Pillen, freudlos und ein bisschen ängstlich. Aber bevor er die Droge einwerfen kann, läuft er unerwartet zwei alten Freunden in die Arme, Karlotta (Oona von Maydell) und Lucki (Simon Rußig). Sie freuen sich, Joscha nach acht Jahren Sendepause mal wieder zu sehen, kaufen Bier, ziehen mit ihm durch ein paar Gassen der Kölner Altstadt.

Vieles wird nur angerissen in Malte Wirtz‘ (Hard & Ugly, 2017) improvisierter Tragikomödie. Das ist gut so. Denn das lose Hingeworfene, ins vage Abdriftende zählt zu den Stärken des Films, der in Echtzeit 102 Minuten im Leben eines Haltlosen nachzeichnet. Wie die Lichter der Stadt setzt der Regisseur ein paar kleine Leuchtzeichen: der Fluss, die Brücke, das andere Ufer. Sie scheinen etwas mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu tun zu haben. Als Joscha noch mit Lucki und Karlotta abhing, muss das eine ziemlich chaotische Zeit gewesen sein. Ein Leben im Partyfieber, heute hier, morgen dort.

Karlotta hat sich viel davon bewahrt, sie fliegt am nächsten Tag nach Mexiko. Hat selbst keine Ahnung, was sie dort treiben wird, Hauptsache Tapetenwechsel. Lucki ist zwar inzwischen verheiratet (mit einer anderen), will sich aber neben dem soliden Leben die alte Freiheit bewahren: zum Beispiel noch einmal mit Karlotta schlafen, bevor sie morgen abhaut. Und Joscha? Erzählt wenig von sich. Nur dass er das Staatsexamen gemacht hat, aber nicht in seinem Beruf arbeitet, sondern bei verschiedenen Start-ups. Nie sehr lange. Sicher ist nur: Sehnsucht nach einer feuchtfröhlichen Nolstalgienacht mit Karlotta und Lucki hat Joscha nicht. Als sie weg sind, nimmt er endlich die Pillen.

Spätestens jetzt sollte man erwähnen, dass der stimmungsvoll eingefangene Film nicht nur ohne geschriebene Dialoge, sondern auch in einer einzigen Einstellung gedreht ist. Das bringt den Vorteil einer sonst schwer herzustellenden Energie mit sich, aber auch viele Herausforderungen. Sebastian Schipper zum Beispiel hat sie in seinem beeindruckenden Viktoria (2015) so gelöst, dass er die Wege zwischen den Schauplätzen kurz und die Spannung hochhielt, indem er die Handlung in einen Bankraub münden ließ.

Mit den Entfernungen tut sich Lichter der Stadt viel schwerer. Denn die Grundidee ist, dass Joscha den Rhein zwischen der Kölner Altstadt und der „schäl Sick“ in Deutz überqueren muss – was man durchaus symbolisch nehmen darf: als eine andere Seite, eine neue Dimension des Lebens. Aber die Brücke ist lang und laut, von vielen Autos befahren. Regisseur Malte Wirtz behilft sich mit einem melancholischen, selbst getexteten Lied zur betörenden Musik von Filmkomponist Shaul Bustan. Aber es hilft nichts. Der Film verliert für einige Minuten seinen Faden und man ertappt sich beim Nachdenken darüber, ob nicht vielleicht gleich doch ein versteckter Schnitt kommt.

Unabhängig von diesem Einwand ist Lichter der Stadt aber ein gutes Beispiel dafür, wie Filmemachen jenseits der Fördergeldmaschinerie auch aussehen kann: experimentell, mit vollen Risiko und spürbarer Begeisterung aller Beteiligten. „Go with the Flow“, sagt Karlotta einmal, als Verdichtung ihres Lebensgefühls. Der Film hält sich daran, fließt geschmeidig wie der Rhein, lässt die Zügel der Kontrolle fahren. Besonders Schauspieler Tim-Fabian Hoffmann läuft als Joscha mit seinem schillernden Facettenreichtum zu großer Form auf. Und in dem stark geforderten Kameramann Francisco de la Torre haben die Darsteller einen einfühlsamen, auf alle äußeren Zwischenfälle souverän reagierenden Mitspieler.

 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/lichter-der-stadt-2020