Atlantide (2021)

Als wir jung waren

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Coming-of-Age-Filme versuchen oft, das ständige emotionale Auf und Ab ihrer jugendlichen Figuren in eine audiovisuelle Form zu übersetzen, indem sie ebenfalls von einer Stimmung in die nächste fallen und dabei diverse Genres durchqueren, von der Komödie zum Drama, über Fantasy zum Horror und wieder zurück. Seltener widmen sie sich dem für diese Lebensphase nicht minder typischen Gefühl der Langeweile – dass jeder Tag quälend gleich verläuft und niemals etwas Neues, Aufregendes zu passieren scheint.

Der 1972 geborene italienische Videokünstler und Filmemacher Yuri Ancarani bringt diese beiden gegensätzlichen Verfassungen in Atlantide auf seltsam faszinierende beziehungsweise faszinierend seltsame Weise zusammen. Im Kino hat Ancarani bisher ausschließlich dokumentarisch gearbeitet – und auch hier, in seinem ersten Spielfilm, dokumentiert er die Fiktion eher, als dass er von ihr erzählt. Seine Figuren, verkörpert von Laiendarsteller:innen, verfügen kaum über Charaktereigenschaften. „Ich hab einen Namen und will respektiert werden“, sagt der Protagonist Daniele an einer Stelle. „Wie alle“, entgegnet seine Freundin Maila. Das fasst die Haltung des Werks zum eigenen Personal recht gut zusammen.

Das Milieu, in das Ancarani blickt, besteht aus Halbstarken, die in Sant’Erasmo, der größten Insel in der Lagune von Venedig, in stets frisch polierten Rennbooten umhercruisen. „Diese kleinen Bote sind lebensgefährlich“, meint ein älterer Herr zu Beginn. Doch wer glaubt, dass sich Atlantide zu einer ins Wasser verlegten Variante von The Fast and the Furious (2001) entwickelt, liegt falsch. Der Film vermittelt uns keine Adrenalinkicks, zeigt fast keine Action. Von der Akkuratesse (wir könnten auch sagen: Spießigkeit), mit der besagter älterer Herr in seinem Feld herumwerkelt, ist das Verhalten der jungen Leute bei allem Hang zur Kriminalität nicht allzu weit entfernt.

Zu dumpfen Technobeats wird geschraubt, geklebt und gefahren; gesprochen wird hingegen fast gar nicht. Zwar wird auch ein bisschen geknutscht und gefeiert; eine Sinnlichkeit wird jedoch lange Zeit trotz vieler durchtrainierter, nackter Oberkörper ausgespart – zugunsten einer absoluten Strenge, die sich vor allem in der Bildkomposition zeigt. Die Dinge wirken geordnet, sowohl bei Tag als auch bei Nacht. Neben den elektronischen Klängen dominieren die Geräusche der Motoren und des Windes die Tonebene. Bei einer Party stürzt sich die Kamera nicht ins Gewusel der Tanzenden und Trinkenden, sondern verharrt in einer statischen Einstellung, während im Hintergrund langsam riesige Fähren vorbeiziehen.

Der Wettbewerb spielt eine Rolle – wie viel Kilometer pro Stunde sind mit dem eigenen Rennboot zu schaffen? Aber wir erleben dies nicht in spektakulären Rennen, sondern in Form einer Tabelle mit Namen und Werten, die in einen Holzpfahl an der Küste eingeschnitzt wird. Daniele will einen Kilometer pro Stunde mehr als alle anderen erzielen. „Dann wär ich zufrieden“, meint er. Seine Freundin ist wenig enthusiasmiert. Später trennen sich die beiden. „Ich hab aufgehört zu träumen“, erzählt Maila bei der Maniküre. So viel Drama ohne Drama; das ist wahrlich außergewöhnlich.

Im letzten Drittel dringt dann der Rausch mit voller Wucht in den Film – und doch anders, als wir es aus dem Adoleszenzkino kennen. Eine junge Touristin, die Daniele nach seiner Trennung von Maila in Venedig kennenlernt, tanzt wild im nächtlichen Fahrtwind auf dem Boot. Alkohol, Koks, Sex im rot und grün leuchtenden Neonlicht. Zuvor haben wir ein Feuerwerk am Himmel beobachtet. Kurz darauf geht eine Szene mit Schattenboxern über in einen Moment, in dem Daniele schwer verletzt auf der Straße liegt. Die Tragik der kommenden Ereignisse wird durch die nüchterne Schilderung einer Nachrichtensprecherin bewusst gedämpft – ehe uns in den finalen Minuten eine hypnotische Kamerafahrt durch die berühmten Kanäle und Brücken der Stadt führt.

Die schönsten Momente in Atlantide haben etwas von einer Erinnerung. Es passt, dass sich der Titel auf ein untergegangenes mythisches Inselreich bezieht. Wenn Musik zu hören ist, mutet sie eher wie die entfernte Erinnerung an Musik an, von einer Party, die wir schon vor Stunden verlassen haben. Wir sind müde, wir haben keine Energie mehr, aber die Erinnerung an die Energie ist noch da. Es geht hier weniger ums Jung-Sein, vielmehr ums Jung-gewesen-Sein – und um die Frage, ob sich denn in all dem im Nachhinein (noch) ein Sinn erkennen lässt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/atlantide-2021