This Rain Will Never Stop (2020)

Der Krieg reist hinterher

Eine Filmkritik von Peter Gutting

So unterschiedlich kann man ein und denselben Film sehen: Als poetische Reflexion über den ewigen Kreislauf von Krieg und Frieden wurde die dritte abendfüllende Dokumentation der Ukrainerin Alina Gorlova bei ihrer Erfolgstour auf zahlreichen Festivals der letzten beiden Jahre gewürdigt. Nun, angesichts der russischen Invasion, fallen die konkreten gesellschaftspolitischen Bezüge viel deutlicher ins Auge. Aus aktuellem Anlass bringt der Verleih JIP Film den visuell beeindruckenden Film ins reguläre Kinoprogramm, als Beitrag zum Kampf gegen die brutalen und menschenrechtsverletzenden Bombardierungen der Ukraine. So lässt sich der Genremix, der zwischen klassischem Dokumentar- und experimentell ausgerichtetem Essayfilm pendelt, durchaus interpretieren. Aber man sollte den Film nicht mit falschen Erwartungen überfrachten. Das 2020 fertiggestellte Werk ist alles andere als ein klares Bekenntnis. Es zwingt zum selbsttätigen Mitdenken und eigenständigen Kombinieren von Zusammenhängen.

 

Klassische Antikriegsfilme sehen anders aus. Sie zeigen Gräuel, Zerstörung, Grausamkeiten. Nicht so This Rain will never stop. Dem Film genügt ein älterer Mann irgendwo im ukrainischen Donbass, der sein Kätzchen streichelt. „Der Tag ist um“, sagt er zu dem Tier. „Du hast ihn überlebt.“ Dann geht er zum nahen Fluss und irgendwo aus der Ferne ertönt Geschützfeuer. Regisseurin Alina Gorlova liebt solche kleinen Momente, in denen sie nichts erklären und einordnen muss. Weder, zu welcher Nationalität der Mann mit dem Kätzchen gehört, noch was es mit den Schüssen auf sich hat. Beinahe der gesamte, mit beherzten Auslassungen erzählte Film besteht aus solchen Vignetten, die mehr zum Ausdruck bringen, als es Interviews, Off-Kommentare oder Hinweise auf Zeit und Ort könnten.

Für den Minimalismus gibt es gute Gründe. Denn bald lernen wir einen jungen Mann kennen, dessen pures Schicksal mehr erzählt als tausend Bücher. Andriy Suleyman stammt aus Syrien, sein Vater ist Kurde, seine Mutter stammt aus der Ukraine. Im Jahr 2012, als Andriy die 9. Klasse besucht, muss die Familie vor dem syrischen Bürgerkrieg fliehen. Sie landet im ukrainischen Lyssytschansk, der Heimat der Mutter. Doch der Genuss des Friedens währt nur zwei Jahre, der Krieg reist den Geflüchteten quasi hinterher. 2014 bricht er über das Donezbecken herein. Die Region um Luhansk ist zerrissen von Spannungen und menschlichem Leid. Einmal zeigt der in kunstvollem Schwarz-Weiß gedrehte Film zwei Menschenschlangen. Die eine kann es kaum erwarten, sich einen russischen Pass zu besorgen. Die andere steht für Hilfsgüter des Roten Kreuzes an. Dort treffen wir Andriy, der sich ehrenamtlich für die Organisation engagiert. Bei einer Feier wird er für seine Arbeit ausgezeichnet. Schließlich ist es nicht selbstverständlich, dass ein Fremder sich derart für seine neuen Landsleute einsetzt. Aber trotz des Lobs und der Integration hadert der junge Mann mit seiner Identität. Soll er in den Westen, nach Deutschland, gehen, wie sein Vater hofft? Oder lieber wieder nach Syrien, in seine eigentliche Heimat? Andriy fühlt sich wie in alle Winde zerstreut, so wie seine Großfamilie, von der ein Teil im Irak, in Deutschland oder eben in der Ukraine lebt. Andriy wird sich auf den Weg machen und einige von ihnen besuchen. Ein Roadmovie beginnt.

Aber das ist nur die eine Ebene des Films. Die andere besteht aus essayhaften Bildern. Angeregt durch Andriys verrücktes Schicksal machen sie sich selbstständig, erobern einen eigenen Raum, fern der erzählerischen Logik. Kameramann Vyacheslav Tsvetkov findet dafür betörende Motive. Ein Drohnenflug über ein ausgedörrtes Gebirge  mutet an wie die Erkundung einer Mondlandschaft, verschmilzt aber unmerklich mit den Abraumhalden der Industrieregion von Donez – plötzlich rückt ein Schwenk die rauchenden Schlote ins Bild. Der kurze Moment der Orientierung ist aber nicht von Dauer. Ganz bewusst vermeidet Alina Gorlova erklärende Hinweise auf Raum und Zeit. Sie will ein universelles, von Metaphern durchzogenes Bild über den Hang des Menschen zur Aggression zeichnen, der die Glücksmomente  – eine prächtige kurdische Hochzeit, die ausgelassene Stimmung einer Gay-Parade – wie in einem ewigen Kreislauf von Freude und Leid immer wieder ablöst.

Der Film öffnet damit Denk- und Gefühlsräume, ohne eine bestimmte Sichtweise vorzugeben. Zwar erschwert seine fragmentarische Struktur den Überblick. Aber sie lädt dazu ein, sich dem Fluss der hypnotisch schönen Bilder wie in einem Traum zu überlassen. Angesichts der aktuellen Lage wird man vor allem einen Gedanken nicht aus dem Kopf bekommen: Wie geht es den Menschen in der Ukraine in diesen Minuten? Der Verleih schreibt, dass die Filmemacherin in Kiew bei der Organisation von Freiwilligengruppen hilft. Am 1. März sendete sie aus der unter Beschuss stehenden Hauptstadt eine Nachricht: „Es fehlt an allem (…). Aber wir sind nicht panisch. Wir versuchen, uns zu organisieren“.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/this-rain-will-never-stop-2020