Mittagsstunde (2022)

Melancholie in Nordfriesland

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Ingwer Feddersen (Charly Hübner) nimmt sich ein Jahr frei vom Unibetrieb in Kiel. Eine stille Melancholie umgibt den 47-jährigen Dozenten, schon bevor er in seinem Heimatdorf Brinkebüll in Nordfriesland ankommt. Dort, am Ursprung seiner vorherrschenden Gemütsverfassung, begrüßen ihn die beiden Menschen, die er „Mudder“ und „Vadder“ nennt, nicht gerade überschwänglich. Ella Feddersens (Hildegard Schmahl) Geist hat sich verwirrt, Sönke Feddersen (Peter Franke) war noch nie ein Mann großer Gefühle. 

Außerdem hat sich Sönke, der alte Wirt des Dorfgasthofs, von Ingwer im Stich gelassen gefühlt, als dieser einst beschloss, lieber zu studieren, als in seine Fußstapfen zu treten. Ingwer ist in der Stadt jedoch auch nie so richtig heimisch geworden, und so dient die Rückkehr ins Dorf neben der Absicht, das alte Paar zu pflegen, auch der Frage, wo er eigentlich hingehört im Leben. Der Regisseur Lars Jessen (Dorfpunks) und die Drehbuchautorin Catharina Junk (Die dunkle Seite des Mondes) haben den gleichnamigen Roman von Dörte Hansen verfilmt. Das wortkarge Drama wird von den Leistungen der hervorragenden Schauspieler getragen, die ihre Charaktere authentisch wirken lassen, mit ihren individuellen Eigenarten und ihrer Menschlichkeit. 

Dem Hauptdarsteller Charly Hübner scheint die Rolle des introvertierten, nachdenklichen Ingwer, der seine Identität noch nicht ganz gefunden zu haben scheint, wie eine zweite Haut zu passen. Aufgewachsen in einem Dorf, in dem jeder sein Päckchen zu tragen hatte, ist er es gewöhnt, die Dinge zu nehmen, wie sie sind. Dieser große Schweiger macht seine Gefühle mit sich selbst aus, aber dass er viele hat, sieht man seinem Blick stets an. Erinnerungen tauchen auf, die als Rückblenden in die siebziger Jahre dargestellt werden. Aus aufgeschnappten, beiläufigen Bemerkungen reimte sich der Junge Ingwer (Lennard Conrad) zusammen, dass nicht Ella (Gabriela Maria Schmeide) seine Mutter war, sondern deren versponnene Tochter Marret (Gro Swantje Kohlhof). Ebenso beiläufig erfährt er erst jetzt, wer sein Großvater war. Mit wunderbarer Lakonie hakt Ingwer, kaum dass er die Neuigkeit vernommen hat, sie schon mit dem versöhnlichen Urteil, dass in dieser Familie schon ein „Kuddelmuddel“ herrsche, ab.

Die Rückkehr ins Dorf ist für Ingwer auch ein Weg, sich von seiner städtischen Wohn- und Lebensgemeinschaft mit Ragnhild (Julika Jenkins) und Claudius (Nicki von Tempelhoff) zu distanzieren. So richtig angenommen und geschätzt kann er sich von den beiden auch nach vielen Jahren nicht fühlen. Das Dorf der Kindheit aber, wie er es in Erinnerung hatte, gibt es so nicht mehr. Die Rückblenden in die Zeit der Flurbereinigung oder als die Dorfkastanie fiel – sie reichen teilweise bis in die sechziger Jahre, vor Ingwers Geburt, zurück - machen den schleichenden Wandel auch für das Publikum sichtbar. Sönke (Rainer Bock) wollte einst mit der Zeit gehen und das Wirtshaus mit Discokugel und Kegelbahn aufpeppen. Doch Ingwer verweigerte sich der Rolle, den Betrieb zu übernehmen. In der Beziehung von Sönke und Ingwer gibt es viel zu klären, und es geschieht durch Gesten, Blicke. Das Drama konzentriert sich nicht nur auf Ingwer, sondern arbeitet auch Sönkes Abrechnung mit seinem Leben sehr bewegend heraus. Er, der Gehörnte und vom angenommenen Sohn Enttäuschte, legt nicht von ungefähr so viel Wert auf die Gnadenhochzeit, die er mit Ella und dem ganzen Dorf feiern will. Niemand anderer, stellt er befriedigt fest, könne hier auf 70 Ehejahre zurückblicken!

Der Film bleibt inhaltlich und atmosphärisch nahe am Roman, wenngleich er dessen Inhalt sehr stark strafft. Vieles von diesem dörflichen Kosmos, den Dörte Hansen so liebevoll und genau schildert, fällt im Film unter den Tisch – vor allem die vielen Nebenfiguren, die ja die dörfliche Gemeinschaft ausmachen. Auch wird beispielsweise das Thema der titelgebenden Mittagsstunde von einst, in der jegliches Geräusch daheim zu unterlassen war, nur so knapp gestreift, dass man es kaum wahrnimmt. Oder es fehlt, wenn Sönke im Film Ingwer zum Geburtstag gratuliert, die Information aus dem Buch, dass er das früher nie machte. 

Das dramaturgische Prinzip der Verknappung passt jedoch auch gut zur Wortkargheit der Menschen von Brinkebüll und zur Stimmung des Abschiednehmens im Film. Wenn sich Ingwer erinnert, legt er die Ereignisse und Momente von früher zugleich auch ab, wie begutachtete Fundstücke. Ingwer, Sönke und Ella schließen ihren Frieden mit dem, was verloren ist und zugleich mit dem, was sie dennoch erreicht haben. Die Traurigkeit in diesem beeindruckenden Film hat etwas sehr Tröstliches.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/mittagsstunde-2022