Grand Jeté (2022)

Wenn die Mutter mit dem Sohne

Eine Filmkritik von Teresa Vena

Gibt es in unserer Gesellschaft überhaupt noch Tabus, die sich auf die Sexualität beziehen? Es gilt doch schon längst die Haltung "Jedem/r, wie er/sie möchte", wenn es um sexuelle Praktiken geht. In der Kunst haben die meisten von ihnen auch Einzug gehalten. Das ist sicherlich begrüßenswert, denn Film fördert die Auseinandersetzung damit und im Idealfall, in vielen Fällen zumindest, ihre gesellschaftliche Akzeptanz. So ist es endlich so weit, dass Homosexualität in einer Geschichte behandelt werden kann, ohne dass es selbst ein Politikum darstellt, sie wird zu einer "normalen" Eigenschaft der Protagonisten. Was provoziert also heute noch? Isabelle Stever hat eine Antwort darauf: Inzest.

Es ist schwierig, ihren Film Grand Jeté nicht auf seine Handlung zu reduzieren. Das ist insofern schade, da die künstlerische Form, die sie für ihre Erzählung wählt, durchaus reizvoll, in Bezug auf bestimmte Aspekte sogar äußerst intelligent und mutig ist. Dazu gehört es beispielsweise, dass die Kamera einzelne Objekte und Details in den Fokus nimmt, während sich an ihnen vorbei die eigentliche Geschichte abspielt: Da sind die hässliche Vase in Hundeform, die erst auf dem leeren Zugsitz steht und später auf der Kommode der damit "glücklich" Beschenkten, oder auch ein beleuchtetes, fahrendes Taxischild in der Abenddämmerung. Vom Konzept her bleibt es auch bei der Beobachtung der Figuren weitgehend bei Nahaufnahmen. Die Bilder sollen die intime Verbindung, die zwischen den zwei Protagonisten besteht, entsprechend nachbilden. Es ist fast unmöglich für die Zuschauenden, sich dem zu entziehen und die Distanz zu finden, die für das Reflektieren dieser Beziehung absolut notwendig wäre. 
 
Das Gefühl setzt sich fest, dass dies damit zusammenhängt, dass die Regisseurin selbst keine Distanz zum Thema findet. Dass man hier eine klare Haltung erwartet, hängt vermutlich in erster Linie mit dem eigenen moralischen Kompass zusammen. Wie der Film diese Beziehung zwischen Mutter und Sohn präsentiert, stößt auf jeden Fall auf. Und das, weil der Fokus auf dem Sexuellen liegt. Ziemlich explizit sieht man Nadja (Sarah Nevada Grether) und ihren Sohn Mario (Emil von Schönfels) beim Geschlechtsverkehr – und das ist eigentlich auch alles, was sie tun. Sie schließen sich in Marcos Zimmer in der Wohnung von Nadjas Mutter (Susanne Bredehöft), wo er lebt, ein und geben sich einander hin. Manchmal ist die Letztere im anderen Zimmer anwesend.

Was daran sinnlich sein soll, bleibt schleierhaft. Auch fällt es einem schwer, sich überhaupt in die Protagonist*innen hineinzuversetzen. Ihre Motivation wird zu wenig ausgearbeitet oder eher gar nicht. Gut, Nadja steckt in einer Lebenskrise, das ist unübersehbar. Ihre Karriere als Balletttänzerin ist längst vorbei, ihr Körper arbeitet gegen sie. Zum Gehen bräuchte sie einen Gehstock, doch sie wehrt sich und schluckt stattdessen Schmerztabletten. Sie ist ausgemergelt, am Hals hat sie ein wenig appetitlich aussehendes Ekzem. Die Begegnung mit ihrem Sohn, der noch mitten im Leben steht, einen muskulösen, gesunden Körper hat, weckt in ihr wohl eine ungestillte Sehnsucht, es ist für sie ein letztes Aufbäumen gegen den persönlichen Verfall. In diesem Zusammenhang lässt sich auch der Titel des Films verstehen: Im Ballett ist Grand Jeté ein großer Sprung nach vorn, das wagt sich Nadja hier – ein Zurück gibt es allerdings nicht. 

In Stevers Film kann man auch einen Kommentar zum Muttersein, zur Mutterrolle, sehen. Nadja hat Marco nur geboren, sonst aber keine mütterlichen Gefühle für ihn übrig. Ist das erlaubt? Dieser Gedanke räumt mit der romantischen Vorstellung auf, dass das Band zwischen Mutter und Kind unzertrennlich sei und vor allem dass diese Beziehung "heilig" wäre. Dann geht es noch weiter. Durch die sexuelle Lust, die sie für ihn empfindet und der sie nachgibt, entweiht sie diese "reine" Verbindung noch vollkommen. Grundsätzlich ist das ein interessanter Ansatz, man sollte alle gesellschaftlichen Normen hinterfragen. Doch bei Grand Jeté steht der voyeuristische Aspekt im Vordergrund, der dem Film eindeutig die Relevanz nimmt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/grand-jete-2022