Grand Jeté (2022)

Denn sie wissen, was sie tun

Eine Filmkritik von Sophia Derda

Nadja und Mario sind Mutter und Sohn. Das ist aber auch schon alles, was die beiden miteinander verbindet. Nadja (die grandiose Sarah Nevada Grether) war eine berühmte Balletttänzerin und die Schwangerschaft mit Mario ein Versehen. Mario (Emil von Schönfels) wuchs daraufhin bei seiner Oma in einem Vorort von Berlin auf, während Nadja auf den Bühnen dieser Welt die großen Ballettstücke tanzte. Nun ist Nadja in ein Alter gekommen, in dem ihr Körper diesem Druck nicht mehr standhält. Ihre Gelenke bräuchten eine Operation und sie bekommt einen Gehstock verordnet. Tanzen kann sie nicht mehr, nur noch lehren, weshalb sie als Ballettlehrerin arbeitet. Mario geht in die Schule, lernt Gedichte auswendig und arbeitet als Aushilfe im örtlichen Fitnessstudio. Die beiden treffen nach vielen Jahren bei einer Familienfeier aufeinander und beginnen sich zum ersten Mal wahrzunehmen.

Isabelle Stever (Das Wetter in geschlossenen Räumen) blickt in Grand Jeté auf eine Beziehung zwischen Mutter und Sohn, die sich fremder nicht sein könnten. So geschieht es, dass sich Nadja und Mario zu Beginn auf eine sehr unkonventionelle Art und Weise näher kennenlernen. Er nimmt sie mit auf eine Party. Viele junge Leute tanzen und haben Spaß, dazwischen Mutter und Sohn, die unsicher und langsam miteinander interagieren. Ihre Blicke weichen sich beim Tanzen aus. Dennoch können sie nicht voneinander lassen. Ein nächstes Treffen geschieht kurz darauf. Mario nimmt Nadja mit zu einer Performance. Einer Performance, der ganz eigenen Art: Mario steht nackt, nur mit einer Maske verhüllt, mit fünf Männern auf einer Bühne. Sie haben zehn Kilo schwere Gewichte an ihren Penissen und wollen in einem Wettkampf rausfinden, wessen Penis am längsten das Gewicht oben halten kann. Das Publikum fiebert mit und fragt sich, wer zuerst daran scheitert. Am Ende gewinnt Mario den Kampf und sackt den Wetteinsatz ein. Nadja ist von dem Dargebotenen verunsichert, ihre kühle und autoritäre Art gerät ins Wanken. In diesem Moment finden Mutter und Sohn eine Verbundenheit. Nadja wird an ihr eigenes Verhalten erinnert, wenn sie als Balletttänzerin das Publikum im Griff hat und mit den Gefühlen der Menschen spielt. Sie sieht in Mario einen ähnlichen Hang. An diesem Abend soll Nadja zum ersten Mal Marios Körper berühren. Sie kommt zu ihm ins Bad und fragt, ob sie seinen Penis anfassen darf. Daraufhin folgen viele Berührungen, die Mutter und Sohn miteinander teilen.

Die Kamera von Constantin Campean erzählt die Geschichte von Nadja und Mario auf bewundernswerte Weise mit. Sehr beweglich und nah an den Figuren dran, erlebt man den Film intim und dennoch unglaublich distanziert. Viele Einstellungen kommen aus einer erhöhten Position über den Figuren selbst. Über die Schultern hinweg beobachtet man das Umfeld von Nadja in verschiedenen Facetten. Dabei ist Nadjas Gesicht fast nie ganz zu sehen und passt sich dem unnahbaren Verhalten von ihr an. Nadja dringt in das Leben ihres Sohns ein, öffnet Türen und überschreitet Grenzen. Sie trifft dabei auf einen adoleszenten Sohn, der offen ist, diese Erfahrungen mit ihr zu sammeln. Es entspinnt sich eine durch und durch körperliche Beziehung, die in keinem Moment des Films als moralisch verkehrt deklariert wird. Akzeptierte Normen für sexuelles Verhalten und Einstellungen zur Sexualität werden stark durch die Eltern beeinflusst. Nadja und Mario sind beide ohne elterliche Fürsorge aufgewachsen. Nadja im Internat für ihre sportliche Ausbildung und Mario ohne sie oder seinen Vater. Die beiden wissen, was sie tun. Sie brauchen einander. Nicht in der Rolle von Mutter oder Sohn, sondern als Komplizen. Sie lernen sich selbst über ihre Beziehung neu kennen, definieren Wünsche und Ziele und sind am Ende des Films an einem Startpunkt angelangt.

Grand Jeté verweigert sich einer moralischen Bewertung, sondern entscheidet sich ganz aktiv die Körperlichkeit darüber sprechen zu lassen. Die Kamera wandert über Nadjas nackten Körper mehrmals entlang. Ihr Körper ist von der Zeit als Balletttänzern geprägt und trägt nach außen, wie es im Innern um sie steht. Szenen in Badewannen verändern den sehr ruhigen Film immer wieder in eine horrorfilmartige Stimmung und zeigen ihren Körper von einer monströsen Seite. Nadjas und Marios Beziehung lebt von dieser Körperlichkeit, sie haben einander gebraucht und gefunden.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/grand-jete-2022