Dark Glasses - Blinde Angst (2022)

Ciao Giallo

Eine Filmkritik von Arabella Wintermayr

Dario Argento ist zurück. Mit einem typischen Giallo feiert der italienische Regisseur und Drehbuchautor nach fast zehn Jahren sein Leinwand-Comeback bei den 72. Internationalen Filmfestspielen von Berlin. In der Sektion „Berlinale Special“ ist sein Film „Dark Glasses“ zu sehen – und der vereint alle typischen Elemente des Sub-Genres, zu dessen Urvätern Argento zählt.

Der Zeitpunkt seiner Rückkehr ist günstig, liegt doch die Neuverfilmung seines Kultfilms Suspiria durch Luca Guadagnino (Call me By Your Name) noch nicht allzu weit zurück. Außerdem konnte sich Argento mit seinem ersten schauspielerischen Auftritt in Gaspar Noés Vortex erst im letzten Jahr dem Festivalpublikum wieder in Erinnerung rufen.

Dass sein neuer Film so lange auf sich warten ließ, mag mit einer ganzen Serie an Misserfolgen zu tun haben. Zahlreiche seiner in den 00er-Jahren produzierten Werke fielen bei der Kritik durch, große kommerzielle Erfolge sind sie ohnehin nie gewesen. Den traurigen Tiefpunkt markierte Dario Argentos Dracula im Jahr 2013, der für viele als der Film gilt, mit welchem dem Regisseur spätestens seine eigene Handschrift abhandengekommen ist.

Die gute Nachricht: In Dark Glasses ist sie klar und deutlich zu erkennen. Wie es oft beim Giallo der Fall ist, steht mit Diana (Ilenia Pastorelli) eine junge Prostituierte im Fokus der Aufmerksamkeit, die von einem brutalen Mörder (Andrea Gherpelli) gejagt wird, der es speziell auf Frauen abgesehen hat, die ihrem Beruf nachgehen. Die stilprägende psychosexuellen Komponente ist damit ebenso vertreten wie die bewusst übertriebenen Gewaltdarstellungen.

Arnaud Rebotini („120 BPM“) liefert die passende musikalische Untermalung, die vor allem aus treibenden Synthesizer-Klängen besteht, die Argento bereits in den 1970/80er Jahren verwendete und dem US-amerikanischen Slasher-Kino, besonders prominent von der Halloween-Reihe adaptiert, als Inspiration diente.

Die schlechte Nachricht ist wiederum, dass Dark Glasses dennoch weder ein guter noch ein unterhaltsamer Film geworden ist. Wenn Argento betont, dass die Realisierung des Filmes deswegen so lange gedauert hätte, weil der Markt zuletzt nach „gewalttätigen und bedeutungslosen Geschichten“ verlangt habe, wirkt das vor dem Hintergrund, dass er diese Kriterien durchaus erfüllt, schmerzlich komisch.

Dabei ist der Versuch, dem Plot ein gewisses Gewicht, ja sogar eine für das Genre untypische emotionale Tragweite einzupflanzen, durchaus erkennbar. Besagte Diana schließt nämlich bald Freundschaft mit dem Jungen Chin (Xinyu Zhang), der ihr im Kampf gegen ihren Jäger zur Seite steht. Das Schicksal hat sie durch einen tragischen Autounfall zusammengeführt, bei dem Diana ihr Augenlicht und Chin seine Eltern verlor.
Bevor es soweit ist, verwendet der Film sogar einige Zeit darauf, die Neuerungen im Leben der jungen Frau zu beleuchten, die sich aus ihrer Blindheit ergeben. Rita (Asia Argento), Vertreterin eines Blindenvereins, gibt ihr Ratschläge, wie sie sich im Alltag zurechtfinden kann und organisiert ihr mit Schäferhündin Nerea einen Assistenzhund.

Der Versuch von Gefühligkeit bleibt über die 90-minütige Spielzeit letztlich aber genau das: Ein Versuch. Einer, der bemüht wirkt, und daher von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Zu sehr wird der kulturelle Unterschied zwischen den beiden zentralen Figuren, zu plakativ die Unwahrscheinlichkeit dieses Duos betont, die sich auch aus dem enormen Altersunterschied ergibt, als dass man hier wirklich mitfühlen könnte.
Hintergründigkeit ist sicherlich nichts, das man traditionell von einem Giallo erwartet, ihre Abwesenheit hätte man Dark Glasses also schwerlich zum Vorwurf machen können. Dass sich der Film daran versucht und dabei recht brachial vorgeht, hingegen schon.

Gleiches gilt für Parallelisierungen, um die sich Argento bemüht: Gleich zu Beginn findet eine Sonnenfinsternis statt, die die Bewohner*innen Roms auf die Straßen lockt. Alle schauen gebannt in den Himmel; auch Diana steigt extra aus ihrem Auto aus, um dem Spektakel beizuwohnen. Unvorbereitet schaut sie in die Sonne, wird von ihr geblendet. Ein Menetekel, das derart deutlich ist, dass man es kaum noch als solches bezeichnen kann.

Am Ende hat Dario Argento zwar bewiesen, dass er den Giallo offenbar weiterhin meisterlich beherrscht. Allerdings auch, dass das Genre - zumindest dann, wenn es sich auf das immer gleiche „Who-dunnit“ um stets ähnlich konzipierte Frauen-Mörder und ebenso stilisierte weibliche Opfer beschränkt -  nicht mehr wirklich zeitgemäß ist. Extreme Gewaltexzesse und vermeintlich abseitige Figuren aus dem Sexarbeit-Milieu umgibt schon lange nicht mehr die Aura des Verruchten, weshalb jede Provokation, jedes Spektakel ausbleibt.

Dass eine Erneuerung des Giallo gelingen kann, ist nichts, was Dark Glasses verspricht. Viel mehr unterstreicht der Film, dass mehr emotionale oder psychologische Komplexität dem Konzept des Einfachen, das den Giallo seit jeher ausmacht, entgegensteht.

 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/dark-glasses-blinde-angst-2022